Ich bin der Herr deiner Angst
dachte an eine Aktentasche mit einem fröhlichen Anti-Atomkraft-Aufkleber, abgestellt im Eingangskorridor des Rechtspsychologischen Instituts. Sie hatten die Tasche finden – und die entscheidende Zeit zu spät kommen sollen, um Hartmut Möllhaus’ Leben zu retten.
«Timing», murmelte er. «Das ist der Schlüssel zu diesem Fall. Das Timing.»
Friedrichs warf ihm einen Seitenblick zu. Sie hatte bereits den Blinker gesetzt: die A7 Richtung Hamburg-Zentrum. Zurück aufs Revier.
«Nein», sagte er kurz entschlossen. «Die nächste. Auf die Autobahn, aber in die Gegenrichtung.»
«Raus aus der Stadt?»
Albrecht nickte, beobachtete, wie sie schicksalsergeben den Blinker zurückschob und ihn zehn Sekunden später von neuem betätigte. Die steile Zufahrt hoch in die Harburger Berge, wo sich an der Steigung die LKW Stoßstange an Stoßstange quetschten. Die gruseligste Auffahrt in der ganzen Stadt.
Albrechts Finger schlossen sich um den Haltegriff, als sich die Kommissarin zwischen einen dänischen Möbellaster und sein deutsches Gegenstück einfädelte. Die A7 war ein Albtraum.
Wenn Friedrichs am Steuer saß.
Aber immer noch besser als Fabers Abkürzung.
«Timing?», griff Friedrichs seinen Gedanken auf.
Albrecht nickte.
«Sie erinnern sich, was ich beim Meeting erzählt habe? Die Tasche des Professors, die der Täter im Flur des Instituts zurückgelassen hatte? Diese Tasche war ein Zeichen, und ihre Botschaft war deutlich: Ich habe den Professor. Er ist das nächste Opfer. So weit, so schlimm. Doch der wirkliche Hintergrund war ein ganz anderer: Dieses Zeichen konnte nur dann funktionieren, wenn wir es zu einem bestimmten Zeitpunkt zu sehen bekamen: Wir hatten plötzlich einen Hinweis – doch wir haben ihn erst in dem Moment erhalten, in dem es zu spät war. Möllhaus war nicht mehr zu retten.
Und genau dasselbe tut er wieder.»
Friedrichs sog die Luft ein. «Sie glauben, das nächste Opfer ist Freiligrath selbst?»
Der Hauptkommissar legte die Stirn in Falten. Dieser Gedanke war ihm noch gar nicht gekommen.
War das möglich?
Er sah geradeaus. Die beiden rechten Spuren führten jetzt ab zur 261, der Verbindung nach Bremen.
«Bleiben Sie auf der 7», murmelte er. «In Richtung Hannover/Kassel.»
Friedrichs warf ihm einen irritierten Blick zu, doch Albrecht hob die Hand.
Störe meine Kreise nicht!
Der Traumfänger selbst als Opfer? Wenn das so war, würde dieser Tod jedenfalls das Ende der Mordserie bezeichnen, da gab es keinen Zweifel.
Doch, nein, daran glaubte der Hauptkommissar nicht.
Angenommen, ein Angehöriger eines Freiligrath-Opfers wollte sich am Traumfänger rächen: Warum hätten dann zuvor mehrere Menschen sterben müssen, die – der eine mehr, der andere weniger – dazu beigetragen hatten, Freiligrath zur Strecke zu bringen?
Nein, dachte Albrecht. Das ergab keinen Sinn.
«Nein», sagte er leise. «So funktioniert es nicht.» Lauter. «Das Timing, Hannah. Das Timing ist das Entscheidende. – Freiligrath sitzt in Sicherungsverwahrung. Sie wissen, was das heißt?»
Friedrichs nickte. «Die Sicherungsverwahrung wird zusätzlich zur eigentlichen Haftstrafe verhängt, faktisch im Anschluss daran, weil man befürchten muss, dass der Täter neue Straftaten begehen würde, falls er direkt wieder freikommen sollte. Ist natürlich nicht unumstritten.»
Albrecht schnaubte. «Allerdings. Sie haben Wegner ja gehört. Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist der Ansicht, dass das besondere seelische Grausamkeit gegenüber den armen, gequälten Kreaturen wäre, die Frauen und Kinder auf dem Gewissen haben und nicht einsehen wollen, warum man sie nach zehn, zwölf Jahren nicht wieder auf die Allgemeinheit loslässt.»
«Weil sie ihre Strafe verbüßt haben», bestätigte Friedrichs. Unüberhörbar, was sie von Albrechts Ironie hielt. «Soviel ich weiß, ist es genau das, was unser Rechtssystem von dem in den Vereinigten Staaten unterscheidet. Bei denen landen die Leute auf dem elektrischen Stuhl. Bei uns haben sie eine Chance, ihre Schuld zu büßen. Sich zu ändern. Auch wenn es lange dauert. Immer die Chance, irgendwann wieder frei …»
«Das müssen Sie unbedingt mal mit Horst Wolfram erörtern», knurrte Albrecht. «Oder mit anderen Eltern, die ihre Kinder …» Er stieß den Atem aus. «Sie haben ja recht», murmelte er. «Grundsätzlich. Das eigentliche Problem besteht in der Definition dieser Sicherungsverwahrung. Die Leute werden ja nicht deswegen länger
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