Ich bin der Herr deiner Angst
handelt.»
Überblendung.
Albrecht hörte ein Keuchen. Sein eigenes oder kam es von Hannah Friedrichs?
Das Foto Ole Hartungs war mehrere Jahre alt, schwarz-weiß, und über seinen Augen klebte wie ein virtuelles Feigenblatt ein schwarzer Balken. Doch wer den Oberkommissar kannte, würde ihn auf der Stelle wiedererkennen.
«Ole H. stand kurz vor der Pensionierung.» Stahmke kam wieder ins Bild und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. «Wie zu erfahren ist, hat H. den Club im Rahmen eines Einsatzes …»
Plötzlich Bewegung auf der Szene. Eine Gestalt, die sich durch die Reihen der Schaulustigen schob. Die Frau mit dem Mikrophon fuhr herum. «Herr Wachtmeister!»
Die Kamera ruckte hin und her und brauchte einen Moment, um mit Stahmke Schritt zu halten, die auf den Eingang des
Fleurs du Mal
zuging. «Herr Wachtmeister!»
«Das ist Lehmann!», knurrte Jörg Albrecht.
Nils Lehmann war der jüngste Beamte im Kommissariat. Gehetzt sah er zwischen den Stufen, die zum Eingang des Clubs führten, und der Frau, die mit dem Mikrophon auf ihn zukam, hin und her.
«Herr Wacht…»
«Kein Kommentar!» Lehmann hatte die Zähne so fest aufeinandergebissen, dass seine Wangenknochen spitz hervortraten.
«Herr Wachtmeister, würden Sie mir …»
«Kein Kommentar!» Der junge Beamte hob die Hand in Richtung Kamera.
«Verdammt!», knurrte Albrecht. «Der Junge soll keine Dummheiten machen!»
Hannah Friedrichs war bereits am Fenster und machte sich am Griff zu schaffen. Im nächsten Moment kamen die Geräusche wie in Stereo – aus Jacquelines Fernseher und live von draußen auf der Straße.
«Herr Wachtmeister, ist es richtig …» Stahmke trat dem Beamten in den Weg, Lehmann versuchte sie zur Seite zu schieben. Wieder Geruckel der Kamera. Ein lautes «He!», vielleicht vom Kameramann. Noch mehr Geruckel, dann die leere Treppe und die Tür des Clubs, die sich hinter Lehmann schloss.
«Wie wir sehen, ist die Situation gegenwärtig äußerst angespannt.» Margit Stahmkes Gesicht war gerötet. «Doch nicht allein die Hamburger Kriminalpolizei, sondern die gesamte Stadt ist heute Morgen erschüttert über den Tod eines Mannes, der seinen Einsatz im Rotlichtviertel in der vergangenen Nacht mit dem Leben bezahlen musste. Aber wir alle …» Die Kamera fuhr noch etwas näher an die Frau heran, bis ihr Gesicht den gesamten Bildschirm füllte. «… stellen heute Morgen auch die Frage nach den Hintergründen, wie ein Hamburger Kriminalbeamter in eine solche Situation kommen konnte.»
Ein knappes Nicken, eine neue Überblendung.
Das Sofa kippte unter Jörg Albrecht weg.
Dem Blickwinkel nach war das Foto von der Tür her aufgenommen worden, die vom Vorraum in das Tatzimmer führte. Ole Hartungs geschundener Körper hing in seinen Fesseln wie ein grotesk aufgequollener, blasser Froschleib. Schwarze Balken verbargen das Gesicht und die Stelle, an der die Genitalien gesessen hatten.
Sie nahmen dem Anblick nichts von seiner Wirkung.
***
Albrecht sagte kein Wort, während er den Dienstwagen am Ohlsdorfer Friedhof entlang Richtung Norden lenkte. Seine Finger umklammerten das Steuer, als wollte er ein Stück herausbrechen.
Ich zog es vor, ebenfalls den Mund zu halten. Das Foto des Morgenmagazins hatte nicht mehr und nichts anderes gezeigt, als wir wenige Stunden zuvor live und mit eigenen Augen gesehen hatten, anstatt auf dem 36-Zentimeter-Flachbildschirm in Jacquelines Appartement – im Grunde sogar weniger, weil die Balken die entscheidenden Stellen verdeckten.
Und doch war dieser Anblick anders gewesen.
Ein Blick wie durch ein Facettenauge aus Tausenden und Abertausenden von Bildschirmen und Flatscreenmonitoren in der Stadt und im gesamten Land. Ole Hartungs geschändeter Körper zwischen Dolly Dobrinzkys x-ter Busenvergrößerung und der Wettervorhersage.
Albrecht hatte kein Wort gesagt. Wir hatten das Verhör mit Jacqueline auf der Stelle abgebrochen, und ich hatte nur mit halbem Ohr mitgekriegt, wie er sich Martin Euler vorgeknöpft hatte. Euler verwahrte sich dagegen, dass er oder einer seiner Männer irgendwelche Aufnahmen weitergegeben hätten, und ich glaubte ihm. Nils Lehmann versuchte gerade, bei Kanal Neun jemanden an den Hörer zu bekommen.
Wir sahen die Aufnahmewagen, sobald wir in die Reihenhaussiedlung abseits der Wellingsbütteler Landstraße einbogen. Eines unserer Einsatzfahrzeuge parkte vor dem anderthalbgeschossigen Klinkerbau. Zwei uniformierte Kollegen hielten die Presseleute auf Abstand, so
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