Ich bin die Nacht
eine Situation gebracht, in der Sie gezwungen waren, sich Ihrer Fähigkeiten zu bedienen. Deshalb auch die Attentatsgeschichte. Ich wollte Sie in eine Situation bringen, in der Sie das Leben eines einflussreichen Menschen retten mussten, der möglicherweise ein Mörder war. Ich hatte den Eindruck, dass Sie dadurch gezwungen werden, sich mit Ihren Empfindungen über den Mord an Mavros auseinanderzusetzen. Wir hatten einen komplizierten Plan ausgearbeitet, wie Sie mich in San Antonio stoppen sollten, aber da Ackerman auf freiem Fuß war und Menschen umbrachte, musste ich Andrew Garrison damit beauftragen, unser kleines Drama abzukürzen. Wir wollten Sie einweihen, nachdem wir den letzten Akt beendet hatten, und dann gemeinsam Ackerman jagen, aber nach der Szene mit dem Grab haben Sie ihn auf eigene Faust verfolgt. Was meiner Ansicht nach beweist, dass Sie so weit sind. Aber das waren Sie noch nicht, ehe Sie damit konfrontiert wurden, wer Sie sind. Ehe man weitergehen und erkunden kann, was vor einem liegt, muss man mit dem Frieden schließen, was man hinter sich hat.«
»Frieden mit dem schließen, was ich hinter mir habe? Ich habe kaltblütig gemordet. Wie soll ich damit Frieden schließen? Wie können Sie erwarten, dass ich für Sie arbeite und weitermorde? Ist das wirklich meine Bestimmung? Ein Mörder zu sein?«
Der Sheriff zuckte mit den Schultern. »Es tut mir leid, mein Junge. Nichts ist schwarz oder weiß. Wenn Sie nach einer perfekten Welt suchen, sind Sie hier falsch. Unsere Welt ist voller Graustufen, und jede Entscheidung ist ein zweischneidiges Schwert. Meist gibt es für jede mögliche Entscheidung einen triftigen Grund. Und in den meisten Fällen gibt es keine richtige Entscheidung, sondern nur das kleinere Übel. Ich kenne auch nicht alle Antworten. Ich wünschte, es wäre so. Ich wünschte, ich könnte eine Bibelstelle oder ein Sprichwort zitieren, das alles wieder ins Lot bringt, aber das kann ich nicht. Ich kann nur sagen, dass Sie in sich gehen müssen. Tief in Ihrem Innern werden Sie erkennen, ob es richtig oder falsch ist, was ich gesagt habe.«
Der Sheriff beugte sich näher. »Eine Frage hätte ich noch«, fuhr er leise fort. »Fühlen Sie sich wirklich schuldig, weil Sie Mavros getötet haben? Lässt es Ihnen wirklich keine Ruhe? Ist es nicht vielmehr der Umstand, dass Sie einem Menschen das Leben genommen haben, sich aber nicht schuldig fühlen?«
Marcus hielt dem Blick des Sheriffs ein paar Sekunden stand, dann schaute er zur Seite. Tränen brannten ihm in den Augen.
»Es hat Ihnen Angst gemacht, nicht wahr? Es hat Ihnen Angst gemacht, weil Sie sich gefragt haben, worin ein Mann wie Sie sich von einer Bestie wie Ackerman unterscheidet. Sie mussten sich fragen, wozu Sie fähig waren. Das ist das Geheimnis aus Ihrer Vergangenheit, das Ihnen wirklich keine Ruhe lässt, stimmt’s?«
Marcus senkte den Kopf und schloss die Augen, um die Tränen einzudämmen. »Ich hätte dabei etwas empfinden müssen. Ich hätte Schuld und Reue und tausend andere Dinge empfinden müssen, wie ein normaler Mensch, wenn er jemanden getötet hat, aber so war es nicht. Ich empfand gar nichts. Ackerman sagte, er könne Maggie mit der gleichen Mühelosigkeit töten, mit der er einen Lichtschalter umlegt. Dieser Satz hat sich mir eingeprägt. Weil es mir genauso leicht gefallen ist. Ich habe einfach die Pistole gehoben und ihm das Lebenslicht ausgepustet.« Er rieb sich über die tränenfeuchten Augen. »Sie haben recht. Seit dieser Nacht in New York habe ich mich gefragt, was mich eigentlich von einem Mann wie Ackerman unterscheidet. Als er den Satz sprach, wurde mir klar, wie winzig der Unterschied ist. Ja, das macht mir Angst.«
In den Augen des Sheriffs waren Mitgefühl und Verständnis zu lesen. »Ich weiß vielleicht nicht alle Antworten, mein Junge, aber eines weiß ich mit Sicherheit: Sie sind ganz und gar nicht so wie Ackerman. Sie beide stehen an den entgegengesetzten Enden des Spektrums. Haben Sie vielleicht deshalb keine Gewissensbisse wegen Mavros empfunden, weil Sie im Grunde Ihres Herzens wussten, dass Sie richtig gehandelt hatten? Sie haben mehr als nur das Mädchen im Auto beschützt. Sie haben auch jedes Opfer beschützt, das nach ihr an die Reihe gekommen wäre. Das Böse gedeiht, wenn sich ihm keine guten Männer in den Weg stellen, und so wäre es bei Mavros gekommen. Er hätte weiter Unschuldige ermordet, bis jemand den Mut aufgebracht hätte, das zu tun, was richtig ist, und sich ihm in den
Weitere Kostenlose Bücher