Ich bin kein Berliner
einem waschechten bayerischen Jägerstübchen ihr Heimweh betäuben, die Ostfriesen bei Kohl und Pinkel die Abwesenheit von Ebbe und Flut bedauern und die Wiener sich im Borchardt und in anderen österreichischen Restaurants ein Riesenschnitzel in Österreich-Form bestellen, das auf keinen Teller passt. Doch am liebsten gehen all diese Berliner zu einer Wurstbude an der Ecke.
Was die Bewohner hier am Tag machen, weiß ich nicht, aber abends gehen sie in die Kneipe.
Viele Touristen schimpfen auf die Abneigung der Berliner gegenüber Dienstleistungen – also über schlechte Bedienung. In einer anderen Stadt wird man sofort bedient, oft sogar von mehr als einem Kellner. Man steht dadurch unter Druck, ständig Bestellungen abzugeben, und ist ganz schnell mit Nudeln oder Alkohol vollgepumpt. Dieser Spaß ist jedoch nie von Dauer: Entweder kriecht man nach zwei Stunden von Gewissensbissen geplagt nach Hause, oder man fällt einfach vom Hocker. In Berlin kann man dagegen stundenlang in einem Lokal sitzen und wird von niemandem angesprochen. Wenn du irgendwas willst, sieh selbst zu, dass du es auch bekommst.
Die Kneipen hier haben einen Anspruch auf Zeitlosigkeit. Sie sind wie ein öffentliches Wohnzimmer, in dem man sich ausruhen kann. Sie sind oft mit schweren Sofas und Sesseln ausgestattet, machen erst nach Mitternacht auf und schließen am darauffolgenden Vormittag. Nach einer Nacht wilden Tanzens haben die jungen Berliner oft keine Kraft mehr, nach Hause zu gehen, und liegen deswegen in Kneipen herum. Manchmal werden hier neue zwischenmenschliche Beziehungen geknüpft und intime E-Mail-Adressen ausgetauscht. Die Sofas in den Kneipen riechen nach Schweiß und Parfüm und sind oft mit Schminke beschmiert. Wegen dieser Kneipen genießt Berlin beispielsweise unter den Schriftstellern große Popularität, und man kann die Stadt ohne Übertreibung als bedeutende Inspirationsquelle der Weltliteratur bezeichnen. Es gibt hier mehr Literaten als Mücken am Wannsee. Aus Bayern, Österreich, Ex-Jugoslawien und dem Ruhrgebiet ziehen sie hierher. Einmal im Jahr kommen etliche hundert zum Literaturfestival nach Berlin, viele von ihnen bleiben länger.
Wenn man ein Interview mit einem Schriftsteller in der Zeitung liest, kommt das Gespräch fast immer auf Berlin. Entweder ist der Autor hier lange Zeit gewesen, oder er hat gerade vor, hierherzuziehen. Amerikanische Bestsellerautoren wollen hier ihre großen Transvestiten-Romane vollenden, japanische Schriftsteller wollen ihre Geschichten »in einer skurrilen Umgebung« spielen lassen, russische Autoren wollen in Berlin »das neue Europa studieren«. In der Regel bleibt dieses Studium ohne Folgen, die Autoren werden von der Stadt verschluckt. Wenn sie nach Jahren wieder auftauchen, lässt sich aus ihren Werken nicht ablesen, was sie die ganze Zeit in Berlin getrieben haben.
Es ist nicht die schöne Architektur, die all diese Literaten nach Berlin zieht – nein, es sind die Kneipen: eine ideale Brutstätte für jeden schöpferischen Menschen. Denn Berlin ist in Wirklichkeit eine einzige Kneipe. In dieser Stadt findet das Leben nicht hinter verschlossenen Wohnungstüren statt, sondern vor und hinter dem Tresen. Dort gucken einander Unbekannte gemeinsam Fernsehen, hören Musik, tanzen, spielen Schach, kommen zusammen oder gehen auseinander. Die Berliner Kneipen sind anders als ihre Schwestern in London, Barcelona und Paris noch nicht von der Tourismusindustrie unterwandert. Sie sind relativ preiswert geblieben, die Gäste werden in der Regel nicht von aufdringlichem Personal mit Fliege und Speisekarte verfolgt, und überhaupt ist das Personal in einer Berliner Kneipe von den Gästen noch kaum zu unterscheiden. In der Kneipe ist es rund um die Uhr halb zwölf, das große Bier oder ein Schnaps ist für zwei fünfzig zu haben, gefrühstückt wird bis achtzehn Uhr. Was will ein Schriftsteller mehr? Sollten Sie einen Schriftsteller suchen, gehen Sie in die Kneipe, dort wird er sitzen.
TIPP:
Es gibt mindestens vier gute Kneipen in Berlin, die sich absolut nicht darüber freuen, in einen Reiseführer aufgenommen zu werden. Es ist an der Zeit, sie beim Namen zu nennen. Sie heißen Torpedokäfer in der Dunckerstraße, Yorckschlösschen in der Yorckstraße, Zwiebelfisch am Savignyplatz und das Café Slavia in der Wiesbadener Straße. Jedes Mal wenn die Journalisten von Merian oder Geo dort aufkreuzen, verstecken sich die Betreiber hinter dem Tresen. Sie meinen, wenn die Touristen kommen,
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