Ich bin kein Berliner
Grundbedürfnisse der Bevölkerung definiert wurden, kann man auf Berlin bezogen mit »Wurst und Theater« übersetzen. Mit wenigen Ausnahmen spaltet sich die Berliner Bevölkerung in Theatermacher und Theatergucker, wobei beide nur selten zusammenkommen.
In östlichen Bezirken wird fleißig gespielt, aber die Besucherzahlen sind dort mickrig. In westlichen wird weniger Theater gemacht, dafür scheinen die Etablissements ein treues Publikum zu besitzen. Eine glückliche Zusammenfügung von Theatermachern und Theaterguckern gibt es dagegen bei uns in Prenzlauer Berg. Ich habe hier auch schon einmal Theater gespielt. Dazu später.
Im Allgemeinen gibt es in ganz Berlin viel mehr Theatermacher als Publikum. Die meisten betätigen sich in den unzähligen Off-Theatern und Laiengruppen, die in keinem Theatermagazin komplett erfasst werden können. Das liegt an der Volkstümlichkeit dieser Kunstgattung. Trotz ständiger Versuche, das Theater als elitäre Kunst zu etablieren, bleibt die Theaterbühne ein Ort, an dem sich die Massen austoben. Anders als beim Film oder in der Musik darf beim Theater jeder mitmachen. Man muss dafür keine besondere Begabung besitzen, zum Beispiel ein Musikinstrument spielen, gut singen oder malen können. Es reicht schon, wenn man in der Lage ist, ein paar Sätze auswendig zu lernen und diese mehr oder weniger glaubwürdig zu einem vom Regisseur festgesetzten Zeitpunkt von sich zu geben. Aber selbst das ist schon lange keine Bedingung mehr. Es darf unter Umständen auch unglaubwürdig klingen, und selbst wenn man den Text an einer falschen Stelle von sich gibt oder ganz vergisst, geht nichts am Stück verloren.
Das Theater ist sehr demokratisch, in allen seinen Sparten: Das Tanztheater beispielsweise braucht keine tollen Tänzer. Die Bereitschaft, barfuß auf der Bühne herumzuspringen und sich ab und zu auf dem Boden zu wälzen, reicht aus.
Für alle, die Tanztheater zu anstrengend finden, gibt es das Bewegungstheater, ein in Berlin sehr verbreitetes Genre. Bewegungstheater heißt, mit Gesten und Grimassen sein inneres Ich zum Ausdruck zu bringen und sich dem fremden Publikum zu öffnen. In Amsterdam wird das Bewegungstheater sogar von Ärzten verschrieben – es ist gut für die Nerven und hilft gegen Stress und Depressionen. In jeder Klinik, die etwas auf sich hält, gibt es inzwischen ein Bewegungstheater mit erfahrenen Therapeuten als Regisseure. Davon können die Berliner Depressiven nur träumen.
Dafür fängt hier das Theater sehr früh an. Bereits im Kindergarten werden regelmäßig Theateraufführungen organisiert. Eine Bühne wird aufgebaut, jedes Kind bekommt Häschenohren an den Kopf gebunden, sein Gesicht wird bunt bemalt, und ab geht die Schau. Die Erzieherin spielt dazu Gitarre, die Kinder versuchen, sich hintereinander zu verstecken. Die Eltern klatschen und rufen dazu: »Zier dich nicht, komm nach vorne!« Wobei jeder natürlich sein eigenes Häschen meint. In der Schule geht es dann mit Shakespeare und Kleist weiter. So werden die Kinder hier frühzeitig zu Rampensäuen gezüchtet.
Die Theaterhauptstadt Berlin kann es mit ihren mehr als viertausend gut besuchten Veranstaltungen pro Jahr mit jeder Theaterstadt der Welt aufnehmen. Als ich 1990 aus dem frostigen Moskau in dieses Mekka der Künste kam, wurde mir vom Arbeitsamt Prenzlauer Berg sofort eine Theaterstelle vermittelt. Damals erhielten hier die zahlreichen Theaterprojekte noch großzügige staatliche Unterstützung. In jeder Kneipe saß ein imposanter schnurrbärtiger Theatermacher mit Pfeife und Whiskeyglas, der regelmäßig ABM-Stellen zu verteilen hatte. Und so wurde ich Mitglied einer begabten Off-Theater-Gruppe. Ich glaube, es war ein Bewegungstanztheater mit kleinen Sprachtheaterelementen und großem pyrotechnischen Aufwand. Bei unserer ersten Premiere in Berlin steckten wir ein leer stehendes Haus in Flammen und erhielten dafür den begehrten »Theaterpreis für freie Bühnen«. Hauptsächlich spielten wir in der Kulturbrauerei, aber auch an öffentlichen Orten, unter der Gleimbrücke, am Teutoburger Platz, auf Marktplätzen, vor Rathäusern und Kaufhallen oder einfach so auf der Straße – immer mit sehr viel Publikum. Nirgendwo habe ich eine derart interessierte Bevölkerung erlebt, die sich alles reinzieht. Vor allem, wenn es umsonst ist.
Bei diesen kostenlosen Veranstaltungen unter freiem Himmel durfte ich in einem französischen Drama den Teufel spielen. In schwarzen Klamotten, mit einer Maske und
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