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Ich bin kein Berliner

Ich bin kein Berliner

Titel: Ich bin kein Berliner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaminer Wladimir
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vertreiben sie ihre Stammgäste. Irgendwann bleiben dann auch die Touristen weg – und dann ist Sense.

    Nazis und andere Sehenswürdigkeiten
    Seit meine Schwiegermutter bei uns zu Besuch ist, machen sich ihre Verwandten im Nordkaukasus große Sorgen um sie. Jede Woche rufen sie an, oft sogar um Mitternacht. »Wie geht es dir, Tanja? Ist alles in Ordnung? Bist du auch nicht verletzt?«
    Der Grund für solche Fragen ist die einseitige Berichterstattung über Berlin im russischen Fernsehen. Dort werden nämlich immer wieder erschütternde Bilder aus der deutschen Hauptstadt gezeigt: Nazidemos, Krawalle, brennende Häuser und umgekippte Autos.
    »Also, ich habe eigentlich nichts bemerkt«, sagt meine Schwiegermutter jedes Mal verlegen. Dabei leben gerade die Verwandten in einer instabilen Region nahe der tschetschenischen Grenze.
    »Guckt weniger Fernsehen und mehr aus dem Fenster! Bei euch ist doch neulich ein Haus explodiert!«, versuche ich zu kontern.
    »Was für ein Haus? Hier ist nichts passiert. Aber bei euch in Berlin, das haben wir gesehen – überall Taliban! Bleibt wachsam dort!«, raten uns die kaukasischen Verwandten.
    Das zeigt die Macht des Fernsehens: Wenn irgendwo am Arsch der Welt hinter dem Potsdamer Platz ein Demo-Stau entsteht, heißt es sofort in den ausländischen Nachrichten: »Krawalle in Berlin«. Bei uns auf der Schönhauser Allee konnte meine Schwiegermutter bis jetzt nichts Derartiges entdecken. Die großen Politiker und die Nazis meiden unsere Gegend. Der aktuelle amerikanische Präsident ging zum Glück nicht wie sein Vorgänger im Gugelhupf am Kollwitzplatz essen, obwohl dort neuerdings hervorragende Stierhoden groß wie Fäuste mit Sauerkraut serviert werden.
    Auch Nazis sieht man bei uns selten. Zuerst hielt meine Schwiegermutter alle Fußballfans für Nazis, wenn sie nach einem Spiel das Jahn-Stadion verließen und grölend durch die Gassen zogen. Bei jemandem, der mit der hiesigen Fußballproblematik nicht so vertraut ist, kann es schnell zu einer solchen Verwechslung kommen. Ich erklärte meiner Schwiegermutter, dass es bloß Sportsfreunde sind. Sie freuen sich, wenn ihre Mannschaft gewinnt, und trauern, wenn sie verliert. Dazu bilden sie Stämme und deklamieren laut selbst gemachte Kurzgedichte. Nein, sie schreien nicht »Heil Hitler!«. Es hört sich nur so an. Die Fußballfans sind eigentlich ganz locker, sie haben keine politischen Forderungen. Die echten Nazis dagegen, die müsste sie fast suchen.
    Neulich kam eine junge russische Dichterin zu Besuch. Sie trug ein eisernes Kreuz an einer silbernen Kette um den Hals und erzählte uns, sie wolle nun eine radikale Künstlerin werden, also politisch provozierende Kunst machen. Deswegen müsse sie unbedingt echte Nazis kennenlernen. Ob wir ihr da weiterhelfen könnten? Unser alter Freund Bert konnte es.
    »Mädchen!«, sagte er, »im Haus deiner Freundin in der Winsstraße, wo du wohnst, befindet sich unten eine echte Nazikneipe. Sie hieß früher ›Zum SS-Mann‹ oder so ähnlich. Heute heißt sie natürlich anders, aber das Publikum ist dasselbe geblieben. Geh da doch einfach mal hin.«
    Das hat unsere Künstlerin auch sofort gemacht, zusammen mit ihrer Freundin. Die Nazis guckten sie verwirrt an, zeigten auf das Kreuz in ihrem Dekolleté und schüttelten ihre Köpfe.
    »So hat sich unser Führer das nicht vorgestellt«, meinten sie, »dass sich irgendeine ausländische Künstlerin unsere Orden als Modeschmuck um den Hals hängt.«
    Von radikaler Kunst hielten sie auch nichts, deswegen machten die beiden Frauen schnell einen Rückzieher. Die Stadt ist groß. Am besten bleibt man unter sich.
    TIPP:
    Wenn die Stadtführer eine Bundeswehrgruppe in ihrem Bus haben, informiert sie der leitende Offizier, ja nichts Nationalsozialistisches zu zeigen. Umgekehrt erfreut sich bei englischen und amerikanischen Touristen alles Nationalsozialistische größter Beliebtheit, sodass es sogar eine spezielle Stadtführung zu Goebbels’ Schuster, Görings Frisör und Hitlers Sockenstrickerin gibt. Ich empfehle dagegen einen Besuch des Dokumentationszentrums Topographie des Terrors zwischen der Niederkirchner- und der Wilhelmstraße sowie des Jüdischen Museums in der Lindenstraße.

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