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Ich bin kein Berliner

Ich bin kein Berliner

Titel: Ich bin kein Berliner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaminer Wladimir
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Wissensbestände der Gesellschaft trotz all dem Spaß in den kleinen Köpfen landen, ist mir ein Rätsel. Die Wege des Wissens sind voller Überraschungen. Jemand wie ich, der seinen Schulabschluss in den Folterschulen des sowjetischen Imperiums machte, kann der Verführung des Vergleichs nicht widerstehen. Unser Schulsystem war anders als das hiesige. Viele meiner Landsleute meinen, es sei sogar besser gewesen.
    In der totalitären Sowjetunion wurden wir täglich mit sechs Unterrichtsstunden ab der ersten Klasse gedrillt. Im Klassenzimmer hing ein Bild von Lenin statt von Mickymaus. Darunter stand: »Bildung ist alles« und »Lernen, lernen, lernen«. Tischtennis konnte man vergessen, Flipper – ein Fremdwort. Je mehr Bildungsdruck auf uns lastete, desto krasser fiel allerdings auch unser Widerstand aus. Die Streber hatten es bei uns nicht leicht. Auch ich, damals ein überzeugter Kämpfer gegen das totalitäre Regime, zog mutig gegen seinen auswuchernden Bildungswahn zu Felde – auf der letzten Schulbank, mit dem Rücken zur Wand. Generationen von Bildungsverweigerern vor mir hatten auf dieser Schulbank bereits ihren Kampf gegen das Schulsystem in Form von Sprüchen, Skizzen und obszönen Zeichnungen verewigt, die sie in das alte Holz ritzten. Die meisten Bilder hatten die Zeit und Überritzungen nicht überstanden. Sie wurden unleserlich. Gut zu sehen waren allerdings ein Transvestit mit übernatürlich langen Beinen, der wahrscheinlich noch unter Stalin als Direktor unserer Schule vorstand; ein mit einem Messer durchbohrtes triefendes Herz und der berühmte »Knopf des Schlafens« mit einer kurzen Gebrauchsanweisung: »Den Kopf auf den Knopf pressen und bis zum Ende des Unterrichts gedrückt halten.« Diesen Knopf drückten mein damaliger Schulbanknachbar Pawel und ich fünf Jahre lang, abwechselnd mit aller Kraft. Bis er in der sechsten Klasse auf eine Matheschule wechselte, dann für alle überraschend gleich mehrere Stadt-Olympiaden in Mathematik gewann und als Wunderknabe vorzeitig ohne Aufnahmeprüfung an der Uni aufgenommen wurde. Nachdem er seinen Doktor gemacht hatte, verzichtete Pawel auf einen Lehrstuhl am Physikalisch-Technischen Institut zugunsten einer hoch bezahlten Programmiererstelle im Ausland.
    Vor kurzem trafen wir uns im Internet wieder. Ich gratulierte Pawel zu seiner Karriere und erinnerte ihn an unseren Schulalltag. Er meinte, das Einzige, was er gegenüber seiner alten Schule empfinde, sei ein Gefühl der Demütigung. Seine Worte haben mich ziemlich überrascht. Pawel war ein großes, dickes Kind, dazu noch ein ziemlich aggressives. Er kam gerne seinen Mitschülern und den Lehrern in die Quere und war für die größten Schweinereien verantwortlich, die in unserer Klasse angestellt wurden. So schmierte er zum Beispiel den Stuhlrücken unserer Physiklehrerin mit dem sowjetischen Superkleber Moment ein, sodass ihre schicken langen Haare daran klebenblieben und sie sie abschneiden musste. Ein anderes Mal überzeugte Pawel seine Klassenkameraden, dass man die Flüssigkeit aus dem Glas, in dem zu wissenschaftlichen Zwecken Frösche eingelegt waren, trinken konnte. Er erfand die Möglichkeit, den Unterricht um zwanzig Minuten zu verzögern, indem man rechtzeitig eine Nadel in das Türschloss des Klassenzimmers steckte. Alle Kräfte, die ihm nach dem Knopfdrücken auf unserer hintersten Schulbank noch blieben, setzte er in destruktive Handlungen um, die nur einem Zweck dienten: das sowjetische Schulsystem zu sabotieren. Und nun – Demütigung. Er wollte eigentlich ein guter Schüler werden, erklärte Pawel mir, er hätte aber Angst gehabt, in dem totalitären Bildungssystem von seinen Mitschülern als korrupt und opportunistisch angesehen zu werden. Auch fühlte er sich von seinen Lehrern und Mitschülern nicht für voll genommen. Er hätte sich damals mehr Zuneigung und Verständnis vom Schulpersonal gewünscht. Stattdessen wurde er gleich vom ersten Tag an als schlecht abgestempelt. Ganz anders später in der Matheschule. Dort kannte ihn niemand, und so konnte er seine Möglichkeiten ungehemmt entfalten. Deswegen mochte er an unsere alte Schule nicht gerne zurückdenken. Nur den Schlafknopf hatte er noch in guter Erinnerung und ihn deswegen auch gleich an seinem neuen Arbeitsplatz installiert – als Bildschirmschoner.
    TIPP:
    Im Osten waren Flipper verboten, weil sie die Botschaft »Konkurrieren macht Spaß« verbreiteten. Und im Westen gibt es heute kaum noch welche, obwohl sich dort eine

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