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Ich bin kein Berliner

Ich bin kein Berliner

Titel: Ich bin kein Berliner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaminer Wladimir
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Großen und Ganzen wie alle anderen Studenten leben: Mühsam verdienen sie sich ihr Bafög, wohnen in einer WG, und abends gehen sie in die eine oder andere Kneipe. Oft haben die jungen Tschuktschen – Luoravetlanen – bei den Frauen Erfolg, aber noch öfter werden sie abgewiesen. Doch es gibt etwas, was die Tschuktschen von den anderen Berlinern unterscheidet: Einmal im Jahr fahren sie in ihr Heimatdorf zu ihrer Mutter in die Tundra. Dort verbringen sie normalerweise drei Wochen. Alle zweihundert Luoravetlanen im Dorf sind untereinander verwandt. Wie in fast jedem Dorf glaubt eine Hälfte der Bewohner an Jesus Christus, die andere glaubt nur an die eigene Kraft. Außerdem gibt es einen, der glaubt, er wäre selbst Jesus Christus. Die Luoravetlanen befinden sich schon seit einer Ewigkeit am Rande des Aussterbens und stehen deswegen unter der Kontrolle einer UNO-Kommission. Doch diese Kommission kann ihnen nicht ständig hinterherlaufen und sie nachzählen. Sie kommt einmal im Jahr und wundert sich dann, dass die Luoravetlanen schon wieder weniger geworden sind, obwohl die miesen Kommunisten auf Tschukotka längst ausgestorben sind.
    Letztes Jahr ist die Luoravetlanen-Population erneut um sieben Seelen kleiner geworden. Die Polizei im Verwaltungszentrum Anadir hatte einen Hinweis bekommen, dass der berühmt-berüchtigte Serienmörder mit dem Spitznamen »Schneemensch«, der jeden Monat aus der Tiefe der Tundra auftauchte und jedes Mal eine Frau mit einer Socke erdrosselte, ein Luoravetlane sei. Der Stammesälteste wollte seinen verdächtigten Landsmann jedoch nicht der Staatsgewalt übergeben und drohte dem Polizeichef mit der UNO-Kommission. Von dieser Drohung ließ sich die Miliz aber nicht beeindrucken. Sie beschloss, das Haus des Verdächtigen zu stürmen. Seitdem gibt es auf der ganzen Welt nur noch hundertdreiundneunzig Luoravetlanen.
    Nach diesem Drama beschlossen die Übriggebliebenen, sich von der Zivilisation erst einmal zurückzuziehen. Dazu tauschten sie mit der Lokalverwaltung ihr Gemeindeland gegen einen verlassenen Raketenschacht der sowjetischen Armee etwa zwanzig Kilometer vom Dorf entfernt. Dieser Schacht war schon immer ein Objekt ihrer Begierde gewesen. Die Atomraketen, die dort vis-a-vis von Alaska jahrzehntelang stationiert gewesen waren, damit die Sowjetunion Amerika auf dem kürzesten Weg erwischen konnte, wurden 1993 abgebaut. Eine gewisse Radioaktivität blieb jedoch erhalten. Deswegen war es im Schacht das ganze Jahr über angenehm warm und trocken. Man konnte dort sogar im Winter Kartoffeln und Gurken anpflanzen. Der Raketenschacht war ein riesiger unterirdischer Bunker mit vielen Wohnräumen – fast ein modernes Hochhaus, nur nach unten. Für die meisten Luoravetlanen war er ein lauschiges Plätzchen. Nur Anton gefiel es dort nicht. Er ist in Berlin ein Großstadtmensch geworden und bekam unter der Erde Platzangst. Außerdem sei es sehr langweilig dort, er habe die ganze Zeit immer nur Gardner gelesen, erzählte Anton.
    »Gardner? Earl Stanley Gardner? Den amerikanischen Krimiautor? Wie kam der denn in den Raketenschacht?«, fragte ich ihn ungläubig.
    Im Schacht standen noch jede Menge Müllcontainer aus den alten Zeiten herum, erzählte mir Anton. Sie wurden nun von seinen Leuten langsam umfunktioniert. Auf der Suche nach Lesbarem fand er dort eine ganze Auflage der Zeitung Sowjetisches Sibirien aus dem Jahr 1983 mit einer Gardner-Geschichte als Fortsetzungsroman. Drei Wochen lang las er ununterbrochen Gardner. Immer wieder dieselbe Geschichte, aber jedes Mal in einem neuen Exemplar.
    »Zum Schluss ging sie mir ziemlich auf den Geist, dafür aber geht es jetzt meinen Leuten ganz gut. Die UNO-Kommission wird sich bestimmt freuen.«
    »Und was ist mit der Restradioaktivität?«, fragte ich ihn.
    »So etwas spüren wir Luoravetlanen gar nicht«, meinte Anton und strahlte.
    TIPP:
    Am Kottbusser Tor praktiziert ein Zahnarzt, der Patienten aus achtundachtzig Nationen behandelt. Dies dürfte in etwa die Zahl an Minderheiten sein, die in Berlin leben. Am unauffälligsten von allen sind die Taiwanesen, sie werden nicht mal von den Chinesen als solche erkannt. Die Ursache dafür findet man schon in einem alten taiwanesischen Merksatz:
    »Nur der Vogel, der vorne fliegt, wird abgeschossen.« Als Ausgehtipp würde ich Ihnen das typisch taiwanesische Restaurant Taipeh in der Helmstedter Straße empfehlen, aber Sie werden es nicht finden.

    Malewitsch lachte
    Der Februar war noch lange nicht zu

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