Ich bin kein Berliner
Gummibären kaufen, der aber auch ein Kilo wiegt – der ultimative Spaß zum Naschen für die ganze Familie. Meine Frau und ich, sogar unsere Kinder, waren von dieser Geschäftsidee überrascht. Das kann doch nicht funktionieren, dachten wir. Nun, nach einigen Monaten müssen wir gestehen, dass wir unrecht hatten. Das Geschäft brummt. Es scheint, als ob alle Anwohner eine Gummibärchensucht entwickelt haben. Sie kaufen sie kiloweise, der Laden ist ständig voll.
Neulich habe ich mit der Besitzerin gesprochen. Fünf Paletten wöchentlich gehen bei ihr über den Verkaufstresen. Sie erklärte sich ihren Erfolg mit der ungeheuren Gummibärchenqualität, da die Bärchen anders als sonst ohne Konservierungsstoffe und ohne Zucker aus purem Waldbeerensaft gemacht werden. Ich glaube inzwischen sogar, dass dieser feine, teure Biogummibärchenladen alle anderen Geschäfte auf unserer Straße überleben wird. Die Videoverleihe ziehen irgendwann weg, McDonald’s brennt ab, die Lebensmittelgeschäfte schließen, sogar im Ärztehaus geht früher oder später das Licht aus. Aber die Gummibärchen werden mir nach wie vor von ihrem Werbeplakat entgegenlächeln, wenn ich nach Hause komme.
Die einzig ernste Konkurrenz für sie ist der Ramschladen »Jedes Teil nur 55 Cent«, den es auch schon seit Ewigkeiten bei uns gibt. Anfangs fragte ich mich: Wer kauft diesen Quatsch? Flaschenöffner, die nichts öffnen, Plüschananas, Plastikblumen? Es muss doch einen geheimen Sinn geben, der den neugierigen Konsumenten dorthin treibt und ihn manchmal stundenlang in den Regalen stöbern lässt.
»Wozu gehören eigentlich all diese Teile?«, fragte mich einmal mein vierjähriger Sohn und lieferte mir mit dieser Frage den Schlüssel für meine »55-Cent-Theorie«. Natürlich gehören alle Teile zusammen! Man muss nur die richtige Anschlussware finden. Wie können ein Schmetterlingsnetz, ein Papiermesser, ein Seil und Pokémon-Abziehbilder zusammenpassen? Wer das begreift, rettet womöglich die Welt. Eine Wundermaschine wird dabei herauskommen, die alle Kriege unnötig macht, die Arbeitslosenstütze verdreifacht, die Welt zum Blühen bringt. Die Iraker werden sich von alleine demokratisieren, die Amerikaner ihre Waffen einmotten, und die Gummibärchen wird es umsonst geben. Gut und Böse schließen Frieden und gehen gemeinsam zu McDonald’s, um einen Jägermeister zu trinken, und alles für nur fünfundfünfzig Cent – wenn man nur hinter die richtige Reihenfolge kommen könnte. Finde sie heraus, neugieriger Konsument, finde sie heraus!
TIPP:
Um Ihnen das Puzzeln etwas leichter zu machen, ein Ausgehtipp: das Medizinhistorische Museum auf dem weitläufigen Gelände der Charité-Klinik. Dort findet man junge Sirenen und Zyklopen in Spiritus neben alten Zahnbohrern auf einem Seziertisch. Vielleicht lässt sich daraus ja schon etwas Schönes zusammensetzen.
Die kleinste Minderheit von Berlin
Neulich lernte ich einen jungen Tschuktschen in Berlin kennen. Genau genommen einen Luoravetlanen, der eine vorbildliche Karriere gemacht hatte. Seine Eltern, erzählte er mir, seien beide Analphabeten, sie lebten in einem kleinen Dorf auf der Tschuktschen-Halbinsel in der Nähe des Polarkreises und könnten nicht einmal ihren Namen schreiben. Er ging dagegen seinerzeit in Anadir zur Schule, anschließend studierte er an der Universität in Nowosibirsk und wurde dann im Rahmen eines Studentenaustauschs als einer der Besten nach Berlin geschickt. Hier ist Anton mit Sicherheit weit und breit der einzige Tschuktsche beziehungsweise Luoravetlane und repräsentiert damit die mindeste Minderheit der neudeutschen Hauptstadt. Dies wird allerdings von der Öffentlichkeit komplett ignoriert. Anton empört sich deswegen gerne über das allgemeine Medieninteresse an den anderen Minderheiten, die seiner Meinung nach kaum etwas Interessantes zu bieten haben.
»Über das kurdische, russische oder bosnische Leben wird immer wieder berichtet, aber keiner schreibt einen Artikel über Tschuktschen in Berlin, geschweige denn über die Ur-Tschuktschen, die Luoravetlanen: Sie werden in der Presse einfach totgeschwiegen«, schimpfte er.
»Das muss sich ändern«, sagte ich und versprach ihm, eine Geschichte über die Tschuktschen in Berlin zu schreiben. Doch außer ihm habe ich bis jetzt noch keine getroffen, also musste ich Anton interviewen. Zwei Stunden lang haben wir miteinander gesprochen. Während des Gesprächs stellte sich heraus, dass die Tschuktschen in Berlin im
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