Ich bin kein Berliner
alle?
Objekt Nummer zwei: ein Duo. Ein Mann mit Gitarre und eine Frau mit Geige in einer Unterführung in Mitte. Beide vermutlich um die vierzig, vermutlich Russen, die Melodie vermutlich russische Folklore, vielleicht auch etwas Modernes, aber definitiv nicht Tschaikowsky. Verdienst – sechsunddreißig Cent in zwanzig Minuten.
Helmut meint, er würde zu gern wissen, wer nun seine hundertfünfzigtausend Euro mit ins Grab genommen hat. Die Statistik lügt, und diese Zahlen bedeuten im Klartext, dass irgendeine Wikingersau über zwanzig Milliarden mit nach Walhalla geschleppt hat und eine ganze 68er-Wikinger-Generation deswegen mit leeren Taschen abtreten muss.
Objekt Nummer drei: ein Akkordeonspieler an der U-Bahn-Station Amrumer Straße. Herkunftsland: Polen, Alter: fünfundfünfzig, Melodie: keine. Der Mann weigerte sich zu spielen. Er beschwerte sich, seine Finger würden ihm wehtun. Will bei unserer Forschung nicht so richtig mitmachen. Nach einer Verhandlung spielt er jedoch für sechs Euro fünfzig Sekunden lang eine Phantasie, später identifiziert als Ballade von Joan Baez – »Love with you« oder so ähnlich, gemischt mit urpolnischen Wikingermotiven.
Auf dem Weg nach Hause werden wir am Alexanderplatz vom Generalsekretär der neuen »Kommunistischen Internationale in Gründung« angesprochen. Er ist außerordentlich guter Dinge und schlägt uns vor, der nunmehr sechsten Internationale beizutreten. »Oder seid ihr politisch schon untergebracht?«, fragt er uns drohend. Der Generalsekretär ist gerade am Alex mit der »unmittelbaren Vorbereitung« des XVI. Parteitags der Kommunistischen Partei Chinas voll beschäftigt. Unter anderem verteilt er Flugblätter über die wirtschaftliche Situation des Landes. Die Chinesen ackern wie verrückt, steht in dem Flugblatt. Neunundachtzig Prozent der zum Parteitag Abgeordneten sind Arbeiter, die vom Staat als Helden der Arbeit eingestuft wurden und monatlich etwas über 6.860 Yuan verdienen. Jedes Jahr steigen in China die Einkommen um zwölf Prozent, das heißt um siebenhundert Yuan. Leider steht in dem Flugblatt nicht, wie viel Euro das sind. Haben die Chinesen Sparbücher?, fragen wir. Der Generalsekretär lächelt und meint, er habe uns erkannt, wir seien Schriftsteller. Er habe neulich ebenfalls ein Buch geschrieben – über die Philosophie im alten Ägypten. Helmut kauft sein Buch für drei Euro, ich betrachte derweil die Weihnachtswerbung am Kaufhof. »Mit unseren Weihnachtspezialisten sparen Sie richtig Geld« lautet in diesem Jahr die Parole. Daraufhin beschließen wir, auch zu sparen, und fahren schwarz nach Hause, die Taschen voll mit kostenloser Großstadtmusik.
TIPP:
Zu den ausgefallenen Musikgenüssen in der Hauptstadt zählen neben Militärkapellen das Kreuzberger Nasenflöten-Orchester, domiziliert in der endart Galerie Oranienstraße, die berüchtigte »Russendisko« im Kaffee Burger in der Torstraße sowie die Auftritte mongolischer Pferdegeigenmusiker und Obertonsänger im Chinggis in der Bornholmer Straße.
Dichter über Berlin
Neulich rief mich ein Kollege an und bat um Hilfe. Er habe sein Buch zu Ende geschrieben und suche nun verzweifelt nach einem passenden Titel. In seinem Werk gehe es um Menschen, Liebe, Leidenschaft, Enttäuschung und Amerika. Sein Titel »Vergiss Amerika, Junge« war leider schon geschützt und deswegen vom Verlag abgelehnt worden. Ob ich nicht eine Idee für ihn hätte, fragte er.
Was sollte ich meinem Kollegen sagen? Dass ich auch gerade ein Buch über Menschen, Tiere, Insekten, Flugzeuge, Liebe und Sibirien geschrieben hatte und dass mein Titel »Es war einmal in Sibirien« ebenso geschützt und vom Verlag abgelehnt worden war?
Die Suche nach einem guten Titel ist inzwischen bei vielen Autoren zu einem Problem geworden. Alles schon einmal da gewesen. Über alles wurde schon geschrieben. Liebe, Menschen, Amerika, Sibirien – diese Stoffe gibt es bei den Trödlern tonnenweise und oft in hervorragender Qualität. Neulich besuchte ich einen großen Händler unter der S-Bahn-Brücke in der Dircksenstraße, bei dem Bücher für drei Euro fünfzig das Kilo verkauft werden. Ich habe dort vieles gefunden, was ich als Kind auswendig lernen musste, zum Beispiel Gedichte des berühmten Arbeiterdichters Wladimir Majakowski. Vor zwanzig Jahren gefiel mir dieser Autor wegen seiner Rücksichtslosigkeit, seiner ehrlichen Art, die Leser anzusprechen: »Genossen, erlaubt mir, ohne Pose, schlicht menschlich …«, und dann ging
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