Ich bin Malala: Das Mädchen, das die Taliban erschießen ...
Kopfschmerzen auf. Ich konnte sogar wieder lesen. Ich fing mit dem
Zauberer von Oz
an, eines von einem ganzen Stapel von Büchern, die mir der frühere britische Premierminister Gordon Brown geschickt hatte. Ich liebte Dorothy mit ihren magischen roten Schuhen. Obwohl sie verzweifelt versuchte, wieder nach Hause zu gelangen, stand sie doch allen bei, die ihre Hilfe brauchten, etwa dem feigen Löwen und dem rostenden Blechmann. Sie hatte viele Hindernisse zu überwinden, bis sie dort ankam, wo sie hinwollte, und ich dachte mir: Wenn man ein Ziel erreichen will, wird es immer Hindernisse geben, aber trotzdem muss man weitermachen.
Ich fand das Buch so aufregend, dass ich es nahezu in einem Rutsch zu Ende las und sofort meinem Vater davon erzählte. Er freute sich unendlich, denn wenn ich eine Geschichte so in allen Einzelheiten behalten und wiedergeben konnte, dann musste mit meinem Gedächtnis alles in Ordnung sein.
Meine Eltern hatten sich deswegen ihre Gedanken gemacht, da ich mich an die Schüsse kein bisschen erinnerte und die Namen meiner Freundinnen oft vergaß. Sie hatten erst gar nicht versucht, ihre Besorgnis zu verbergen. Eines Tages forderte mich mein Vater auf: »Ach, Malala, sing uns doch ein paar Tapas auf Paschtu vor.«
Ich trug einen Zweizeiler vor, den wir alle mochten: »Wenn du deine Reise beim Schwanz der Schlange beginnst, wirst du in einem Ozean von Gift landen.« Konkret hieß das: Die pakistanischen Behörden hatten die militanten Kämpfer gefördert und mussten jetzt die selbst eingebrockte Suppe auslöffeln.
»Einen dieser Zweizeiler würde ich am liebsten umschreiben«, sagte ich nach meinem Gesang. Mein Vater sah mich zweifelnd an. In den Tapas schlägt sich die jahrhundertealte Weisheit unseres Volkes nieder. Man ändert sie nicht so einfach.
»Welchen denn?«
»Den«, meinte ich und begann zu singen:
Wenn die Männer die Schlacht nicht gewinnen können,
o mein Land, werden die Frauen kommen
und euch Ehre machen.
»Wenn du mich fragst«, sagte ich zu meinem Vater, »müsste das so heißen.« Und schon sang ich erneut:
Ob die Männer die Schlacht nun gewinnen oder verlieren,
o mein Land, die Frauen werden kommen,
und die Frauen werden euch Ehre machen.
Er lachte und erzählte die Geschichte fortan jedem, der sie hören wollte.
Intensiv arbeitete ich mit dem Physiotherapeuten, um meine Arme und Beine wieder funktionsfähig zu machen. Am 6 . Dezember wurde ich dafür belohnt: Ich durfte zum ersten Mal das Krankenhaus verlassen. Ich hatte Yma erzählt, dass ich die Natur liebte, also organisierte sie für mich und meine Mutter einen Ausflug in den Botanischen Garten ganz in der Nähe des Queen Elizabeth Hospitals in Begleitung zweier Krankenhausmitarbeiter. Mein Vater durfte nicht mit uns kommen, weil sie im Krankenhaus fürchteten, dass man ihn erkennen würde, da er so oft in den Medien gewesen war. Trotzdem war ich überglücklich, endlich wieder in der Welt zu sein, Birmingham und England zu sehen. Leider musste ich auf der Fahrt im Auto auf der Rückbank in der Mitte sitzen, was bedeutete, dass ich kaum aus dem Fenster schauen konnte. Dabei interessierte ich mich sehr für dieses neue Land. Erst später wurde mir klar, dass man mich einfach nur davor bewahren wollte, mit dem Kopf irgendwo anzustoßen.
Als wir im Garten herumgingen und ich all die Bäume und Sträucher sah, erinnerte mich dies schmerzhaft an zu Hause. Immer wieder sagte ich, obwohl es nur wenige immergrüne Gewächse gab: »Der Baum wächst in meinem Tal auch.« Oder: »Diesen Strauch gibt es auch bei uns.« Ich bin sehr stolz auf die schönen Gewächse in meinem Tal. Die »normalen« Spaziergänger im Botanischen Garten kamen mir dagegen seltsam vor. Wie auch immer, ich jedenfalls fühlte mich wie Dorothy, die endlich wieder daheim war. Meine Mutter war so aus dem Häuschen, dass sie meinen Vater noch vom Garten aus anrief: »Malala ist zum ersten Mal seit damals richtig glücklich.« Aber draußen war es eiskalt, und so gingen wir bald in ein Café, tranken köstlichen Tee und aßen wunderbaren Kuchen. Ich genoss etwas, das man
Cream Tea
nannte.
Zwei Tage später erhielt ich meinen ersten Besuch von jemandem, der nicht zur Familie gehörte. Der damalige Präsident von Pakistan, Asif Zardari, erschien, um mich zu sehen. Das Krankenhaus war wegen des zu erwartenden Medienrummels gegen diesen Besuch, doch mein Vater hätte dem Präsidenten unseres Landes einen solchen schlecht
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