Ich bin Malala: Das Mädchen, das die Taliban erschießen ...
traute ich meinen Augen kaum. Es lautete: »Ehrlich währt am längsten.«
Unsere einzige Übung, was das öffentliche Reden betraf, war das Aufsagen von Gedichten bei der Morgenversammlung. Doch da war ein älteres Mädchen, das Fatima hieß und als sehr gute Rednerin galt. Sie war schön und besaß eine mitreißende Art. Sie konnte vor Hunderten von Menschen frei sprechen, und sie zog alle Zuhörer in ihren Bann. Moniba und ich sehnten uns danach, zu sein wie sie, und hatten sie genau beobachtet.
In unserer Tradition werden die Reden ja üblicherweise von unseren Vätern, von unseren Onkeln oder Lehrern geschrieben. Sie werden auf Englisch oder Urdu verfasst, aber nicht in unserer Muttersprache Paschtu. Wir waren der Meinung, Englisch zu sprechen, das bedeute, intelligenter zu sein. Das war natürlich ein Irrtum. Es spielt keine Rolle, welche Sprache man wählt, wichtig ist die Wahl der Worte, die man verwendet, um sich auszudrücken.
Monibas Rede wurde von einem ihrer älteren Brüder verfasst. Sie zitierte schöne Gedichte von Allama Iqbal, unserem Nationaldichter.
Meine Rede hatte mein Vater geschrieben. Darin vertrat er ein Argument, das ich nachvollziehen konnte. Er sagte, wenn man, um etwas Gutes zu tun, einen schlechten Weg wählt, dann rechtfertigt dieser auch nicht das Gute. Und andersherum: Wenn man eine gute Methode wählt, um etwas Schlechtes zu tun, bleibt es noch immer schlecht. Er schloss mit den Worten von Lincoln: »Es ist ehrenvoller zu scheitern, als zu betrügen.«
Am bewussten Tag tauchten nur acht oder neun Jungen und Mädchen auf, die an dem Wettbewerb teilnehmen wollten. Moniba sprach gut – sie war sehr gefasst, und ihre Rede war emotionaler und poetischer als die von mir, auch wenn meine vielleicht die bessere Botschaft beinhaltete. Vor meinem Auftritt war ich so nervös, dass ich vor Angst zitterte. Mein Großvater war gekommen, um mir zuzusehen, und ich wusste, dass er sich meinen Sieg sehr wünschte. Das machte mich noch nervöser. Ich erinnerte mich daran, was mein Vater mir gesagt hatte: Ich solle, ehe ich anfing, tief Luft holen. Doch dann sah ich die vielen Menschen und ratterte alles herunter.
Immer wieder verlor ich den Faden, weil die Seiten, auf denen meine Rede stand, in meinen bebenden Händen tanzten. Als ich mit Lincolns Worten zum Ende gekommen war, sah ich zu meinem Vater hin. Er lächelte.
Am Ende verkündeten die Juroren die Ergebnisse: Moniba hatte gewonnen. Ich erreichte den zweiten Platz.
Das war an diesem Tag aber nicht das Wichtigste. Lincoln hatte in dem Brief an den Lehrer seines Sohnes auch geschrieben: »Lehren Sie ihn, mit Würde zu verlieren.« Ich war es gewohnt, in meiner Klasse die Beste zu sein. Doch mir wurde klar, dass man zwar drei- oder viermal hintereinander gewinnen kann, dass dies aber noch lange nicht heißt, dass einem der nächste Sieg ohne Mühe in den Schoß fällt. Und dass es manchmal besser ist, seine eigene Geschichte zu erzählen. Ich fing an, meine Reden selbst zu schreiben, und veränderte die Art und Weise, sie zu präsentieren: nicht vom Blatt, sondern aus dem Herzen.
6
Die Kinder vom Müllberg
A ls immer mehr Kinder auf die Khushal-Schule kamen, zogen wir schließlich um und hatten endlich auch einen Fernsehanschluss. Meine Lieblingssendung war
Shaka Laka Boom Boom,
eine indische Zeichentrickserie über einen Jungen namens Sanju. Sanju hatte einen Zauberstift, der dafür sorgte, dass alles, was er zu Papier brachte, Wirklichkeit wurde. Zeichnete er Gemüse oder einen Polizisten, tauchten das Gemüse oder der Polizist auf wundersame Weise plötzlich real auf. Skizzierte er versehentlich eine Schlange, konnte er sie wieder wegradieren, und die Schlange verschwand auf der Stelle. Er benutzte seinen magischen Stift, um anderen Menschen zu helfen – einmal rettete er seine Eltern sogar vor Verbrechern.
S o einen Zauberstift wünschte ich mir mehr als alles auf der Welt.
Abends betete ich: »Lieber Gott, schenke mir Sanjus Stift, ich werde es bestimmt niemandem sagen. Leg ihn mir einfach in den Schrank. Ich werde ihn benutzen, um alle Menschen glücklich zu machen.«
Sobald ich mit Beten fertig war, zog ich die Schublade auf. Aber der Stift war nie da.
Ich wusste auch schon, wem ich zuerst helfen würde. Ein wenig die Straße runter, nicht weit von unserem neuen Haus, gab es ein Stück Brachland, das die Leute als Müllhalde benutzten – bei uns im Swat existiert keine organisierte Müllabfuhr. Schnell wuchs aus der
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