Ich bin Nummer Vier
Geheimnisse …« Ein Hustenanfall unterbricht ihn, noch mehr Blut quillt hervor. Er schließt wieder die Augen. »Der Kasten, John.«
Ich ziehe ihn fester an mich. Sein Körper wird schlaff, die Atemzüge sind so flach, dass sie kaum Luft enthalten können.
»Wir kehren gemeinsam zurück, Henri. Du und ich, das verspreche ich dir.« Ich schließe die Augen.
»Sei stark.« Wieder schüttelt ein Hustenanfall seinen Körper.Er versucht, trotzdem zu sprechen. »Diesen Krieg … gewinnen … Such die anderen … Sechs … die Kraft von …« Er verstummt.
Ich versuche mit ihm in den Armen aufzustehen, aber ich habe keine Kraft mehr, kann selbst kaum noch atmen. Aus der Ferne höre ich die Bestie brüllen. Kanonen werden immer noch abgefeuert, die Geräusche und Lichter davon dringen über die offene Zuschauertribüne. Doch mit jeder Minute wird weniger geschossen, zum Schluss fällt nur noch ein einziger Schuss, dann ist es still.
Ich lasse Henri in meinen Armen sinken und lege ihm eine Hand ans Gesicht. Vorsichtig heben sich seine Lider und er blickt mich an – ich weiß, zum letzten Mal. Dann, nach einem schwachen Atemzug, schließt er langsam die Augen. »Auf keine Sekunde davon möchte ich verzichten, Kleiner. Nicht um alles in Lorien. Nicht um alles in der ganzen verdammten Welt«, flüstert er, und nach dem letzten Wort weiß ich, dass er gestorben ist. Ich drücke ihn an mich, zittere, weine, verzweifelt, hoffnungslos. Seine Hand rutscht leblos ins Gras. Ich lege seinen Kopf in meine Hand und halte ihn eng an meine Brust gedrückt, ich wiege ihn hin und her und weine, wie ich noch nie zuvor geweint habe. Der Anhänger an meinem Hals glüht ganz kurz blau, wird einen Moment schwer, dann verblasst er wieder.
Ich sitze im Gras und halte Henri in den Armen, während die letzte Kanone verstummt. Der Schmerz verlässt mich, mit der nächtlichen Kälte spüre ich, wie mein Selbst schwindet. Am Himmel leuchten Mond und Sterne. Der Wind trägt ein abgebrochenes Gelächter herbei. Ich drehe den Kopf danach. Durch das Schwindelgefühl hindurch erkenne ich verschwommen einen Scout, fünf Meter von mir entfernt, im langen Trenchcoat, den Hut tief in die Stirn heruntergezogen. Nun lässt er den Mantel fallen und nimmt den Hut ab, sein Kopf ist fahl undhaarlos. Er greift in seinen Gürtel und zieht ein Bowiemesser heraus, die Klinge ist mindestens dreißig Zentimeter lang. Ich schließe die Augen, es ist mir egal. Der rasselnde Atem des Scouts kommt näher, drei Meter, anderthalb. Und dann verstummen die Schritte. Der Scout stöhnt und beginnt zu röcheln.
Ich öffne die Augen, der Scout ist so nah, dass ich ihn riechen kann. Das Bowiemesser fällt ihm aus der Hand, und in seiner Brust, dort, wo ich das Herz vermute, ist der Griff eines Metzgermessers zu erkennen, das jetzt herausgezogen wird. Der Scout fällt auf die Knie, stürzt zur Seite und explodiert in einer Aschewolke. Hinter ihm steht Sarah mit Tränen in den Augen, das Messer in der zitternden rechten Hand. Jetzt lässt sie es fallen, läuft zu mir und schlingt die Arme um mich und Henri in meinem Schoß. Ich halte ihn, während mein Kopf zur Seite sinkt und die Welt zu einem Nichts verblasst.
Die Nachwehen des Krieges, die Schule ist zerstört, die Bäume sind gefallen, Aschehaufen bedecken das Gras des Footballplatzes – ich halte Henri immer noch fest in den Armen. Und Sarah hält mich.
34
Bilder flimmern vor meinem inneren Auge, jedes enthält seinen eigenen Schmerz oder seine eigene Freude. Manchmal beides vereint. Vom schlimmsten, einem undurchdringlichen Schwarz, zum schönsten, einem so strahlenden Glück, dass es in den Augen schmerzt, erscheinen und verschwinden sie, als würden sie von einem unsichtbaren Projektor an die Wand geworfen. Eins nach dem andern. Stopp! Vergrößere das. Druck es aus, und, verdammt noch mal, das musst du immer wieder ansehen. Henri hat immer gesagt: Der Preis der Erinnerung ist die Erinnerung an den Kummer, den sie enthält.
Es ist ein warmer Sommertag. Die Sonne steht hoch am wolkenlosen Himmel, eine Brise weht vom Wasser herüber und trägt die Frische des Meeres mit sich. Ein Mann geht auf das Haus zu, er ist jung, frisch rasiert, hat kurzes braunes Haar, leger angezogen. Seine Aktenmappe schiebt er von einer Hand in die andere, auf seiner Stirn schimmert Schweiß. Er klopft an die Tür, Großvater öffnet ihm und er kommt ins Haus. Ich spiele im Hof weiter mit Hadley, der ständig sein Aussehen verändert: mal
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