Lebens(t)raum: Eine Sommergeschichte (German Edition)
Eins
Sanft kräuselte der Wind das still wirkende Wasser, trieb kleine Wellen über die Oberfläche und spielte mit dem Schilf. In einer Weide, die ihre trauernden Äste soweit herab hängen ließ, als wolle sie ihr Spiegelbild im See liebkosen, sang ein Vogel sein fröhliches Lied. Die Sonne schien hell vom blauen Himmel herab, auf dem eine ausgelassene Schafherde vom verspielten Wind nach Westen getrieben wurde. Einsam und malerisch lag die Landschaft da und sonnte sich in den wärmenden Strahlen, die vom Wasser reflektiert wurden.
Verborgen unter dieser trügerisch ruhigen, spiegelnden Fläche warf die Nymphe in diesem Moment ihre Fangmaske aus. Leise hatte sie sich angepirscht, bis sie in Reichweite ihres arglosen Opfers kam. Immer wieder innehaltend, um nicht entdeckt zu werden, kalkulierte sie ihre Chancen. In angespannter Starre verharrend, wartete sie vorsichtig, bis sie es wagte, wieder ein Stück der Distanz zwischen sich und ihrer Beute zu verringern. Ihr Blutdruck steigerte sich, als sie endlich nah genug herangeschlichen war, die bislang sorgsam gefaltete Fangmaske ausstülpte und blitzschnell über ihr Opfer warf. Dem überraschten, wehrlos zappelnden Gegner brachte sie, mit ihrem tödlichen, mit klebrigem Sekret behafteten Instrument den Tod. Ihre langen, spitzen Chitinzähne bissen sich fest, ehe sie den gelenkigen Fangapparat wieder einzog und dem Mundwerkzeug das Schneiden und Kauen erlaubte. Ein letztes Mal stärkte sie sich, opferte ein fremdes Leben für das ihre, bevor sie sich reinigte, als Vorbereitung auf ihr großes Ziel. Die nächsten Tage verbrachte sie fastend.
Immer wieder, während der Hunger in ihr tobte, tauchte sie für einen kurzen Moment aus den Fluten auf, kostete einen winzigen Augenblick lang von der würzigen Luft, die die Atmosphäre außerhalb ihres Wasserreichs aromatisierte.
Schon seit Jahren lauerte sie in diesem Gewässer, hungrig, dürstend nach dem Leben Anderer. Sie brauchte die Kraft von Vielen, benötigte ihr Blut und nahm ihr Leben, um sich zu stärken und auf ihr einziges Ziel vorzubereiten: Veränderung. Sie wollte werden, sich verwandeln, von der Nymphe zur schillernden Imago. Alles in ihr drängte danach. Nun, sie konnte es spüren, war es soweit. Endlich. Energisch schwamm sie auf das nahe gelegene Ufer zu, griff nach den herausragenden Halmen der mächtig emporragenden Schilfgewächse, hangelte und zog sich daran empor. Verankerte sich an einem kräftigen Stängel. Die Seejungfer füllte, wie sie es in den letzten Wochen wieder und wieder geübt hatte, ihren Körper mit dem gasförmigen Gemisch, welches die Landbewohner atmen.
***
Während das Wasser aus ihr herausströmte und ersetzt wurde, durchfuhr ein plötzlicher, ziehender Schmerz ihren Leib. Die nun eingeatmete Luft schoss direkt ins Blut und erzeugte unerträglichen Druck in ihrem Inneren. Die Haut am Kopf und am Rücken spannte sich, riss ein, begann zu platzen. Die letzte Metamorphose hatte begonnen. Sie war dabei, sich zu verwandeln, um sich endgültig aus dem schlammigen Nass zu erheben, in dem sie ihr räuberisches Dasein gefristet hatte. Streifte ihre alte Hülle ab, um ein neues Leben zu beginnen.
An Land, in der Luft und im Sonnenschein. Millimeter für Millimeter schob sie ihren noch fast durchsichtigen weiß-grünlichen Körper kopfüber aus ihrer Larvenhaut. Es strengte sie an - mehrmals musste sie Pausen einlegen – doch schließlich bäumte sie sich auf, ihre äußere Haut am Kopf packend, und zog blitzschnell den Rest ihres Hinterleibs heraus. Die Exuvie, die nun unnütze Hülle ihres früheren Selbst, klammerte sich noch immer haltsuchend an den Halm, während die Seejungfer mehr und mehr von der köstlichen Luft in sich hineinpumpte, sich damit anfüllte, bis sie ganz prall und satt davon war.
Erst dann begann sie, ihren gesamten Körper aushärten zu lassen, und gleichzeitig etwas Farbe anzunehmen. Ihre vornehme Blässe im Sonnenlicht verlierend, pigmentierte sie und färbte sich zunehmend türkis.
Während sich weiterhin unermüdlich Druck im Inneren ihres Körpers aufbaute, den sie zunächst in die Flügel und danach in das Abdomen leitete, fiel der Luftdruck jäh ab. Unterdessen trieb der Wind die Schäfchen am Himmel immer dichter zusammen, türmte sie zu gewaltigen Wolkenbergen auf, welche rasch die Sonne verdunkelten. Der Geruch nach Ozon lag in der Luft und ihre ionisierte Spannung machte die trocknende Jungfer unruhig. Sie spürte das herannahende Gewitter,
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