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Ich bin verboten

Ich bin verboten

Titel: Ich bin verboten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anouk Markovits
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zweites Mal retten, indem er dich in die Welt der Thora zurückführt. Sei dankbar, Josef Lichtenstein. Bald kannst du der Frau Geld und Pakete schicken. Du wirst ihr Kaffee und Zucker zukommen lassen. Ein Junge in deinem Alter gehört in eine Jeschiwa. Nur das Thorastudium wird den Messias bringen, und nur der Messias wird uns unsere Toten zurückbringen. Ja, so wird es geschehen, auch unsere Märtyrer werden wieder leben.«
    »Meine Mutter, mein Vater, Pearela?«
    »Sie werden auferstehen, als sei nichts geschehen. Die Trompete wird erklingen. Beim ersten Stoß wird die Welt erzittern. Beim dritten Stoß werden die Gebeine sich aufrichten.« Als er die staunend geweiteten Augen des Jungen sah, lächelte Zalman. »Dein Urgroßonkel Reb Elimelech war ein berühmter Thoragelehrter. Die Menschen sind tagelang gereist, nur um ihn einmal in ihrem Leben zu sehen. Und auch du kannst zu einem Ben Thora werden, auch du, Josef, Sohn des Jekutiel und der Judith, kannst das Kommen des Messias beschleunigen.«
    »Anghel.«
    »Vergiss Anghel. Anghel ist ein Name der Angst, und ein gottesfürchtiger Jude braucht keine Angst vor den Gojim zu haben. Sei dankbar, Josef Lichtenstein, unser Herr hat dich einmal gerettet, und Er hat dich ein zweites Mal gerettet, indem Er dich in Seinen Schoß zurückgeholt hat.«
    Josef lag zusammengerollt unter der Daunendecke, spielte mit den verblassten Quasten und hing seinen Erinnerungen nach. »Sei dankbar …«
    Er hatte es ihr nie gesagt. Wie oft hatte Florina ihm ins Ohr geflüstert »Mama will, dass Anghel lebt …« Jeden Abend hatte er sich in ihre Arme gekuschelt, seine Füße zwischen ihre Waden gesteckt und sich an das Geräusch ihres Atems geklammert, nur auf die Idee, Florina zu danken, war er nie gekommen.
    Zalman erklärte der Familie, dass er keine Zeit vergeuden wolle, ab sofort würde er Josef auf seine Bar Mizwa vorbereiten. Jeden Morgen nahm er den Jungen mit in seine Studierstube. Hinter der verschlossenen Tür hörten Mila und Atara, wie Josef mit leiser, verwirrter Stimme die Namen all der Kantillationen wiederholte, die Zalman ihm beibrachte: »In der heiligen Sprache heißen die kleinen Zeichen über und unter den Buchstaben der Kantillationen Teamim, was auch Geschmack bedeuten kann. Sie geben nicht nur die Betonung vor, sondern deuten auf die Essenz der Worte. Mit der Zeit wirst auch du den Geschmack der heiligen Verse richtig genießen lernen.«
    »Kadma-a muna zarka-a-a-a«, sang der Junge Zalman mit unsicherer Stimme nach.
    »Erhebe deine Stimme, komm heraus aus deinem Versteck, Josef, Sohn des Jekutiel!«, brüllte Zalman.
    Josef träumte von schwarzen Schnörkeln, die durcheinanderpurzelten und unentwirrbare Fäden spannen; Zalmans Geschichten vermischten sich mit denen über Jesus Christus, und Josef suchte nach dem letzten Buchstaben in diesem Durcheinander, nach dem letzten und dem ersten Buchstaben eines verlorenen Wortes …
    In der Woche vor den Hohen Heiligen Feiertagen setzte Zalman den beklommenen Josef auf einen Stuhl, unter dem Zeitungen ausgebreitet lagen, und rief die Kinder herbei. Dann löste er einen Knoten über seinem Ohr, so dass eine dicke dunkle Locke herabfiel. »Der Herr sagt, ihr sollt euer Haar am Haupt nicht rundumher abschneiden .« Er nahm den Rasierer. »Auch du musst Gottes Zeichen tragen, wenn du willst, dass Er dich als einen der Seinen erkennt. In Ägypten haben die Juden ihre Traditionen beibehalten, sie haben sich in ihrer Kleidung, ihrer Sprache und ihren Namen nicht angepasst, und so konnte der Herr sie erkennen und aus der Sklaverei führen.«
    Das Haar des Jungen fiel auf die Zeitungen, als Zalman ihn bis auf die Kopfhaut kahl schor und nur zwei Schläfenlocken stehen ließ.
    An jenem Abend hörten Mila und Atara den Jungen die Treppe hinabschleichen. Vom offenen Fenster aus beobachteten sie, wie er über die schwach beleuchtete Straße zur Kirche am Ende des Häuserblocks lief. Dort kauerte er sich unter das dunkle Portal, das sie selbst so bedrohlich fanden.
    Als sie später im Bett lagen, hörten sie einen dünnen, lang gezogenen Klagelaut. Sie hielten die Luft an. Das Wimmern ging weiter. Mila stand auf, patschte mit nackten Füßen übers Parkett und verließ das Zimmer. Das Wimmern hörte auf.
    Mila hielt den geschorenen Kopf des Jungen in den Armen, drückte ihn an ihr Herz, wärmte ihn mit ihrem Flüstern: »Schefele … schefele …«
    Es kamen die zehn Bußtage, und sie strömten herbei, die Überlebenden aus

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