Ich bin verboten
noch einmal in seine Studierstube gegangen, doch diesmal lief er weiter durch den langen, mit Umzugskisten vollgestellten Flur. Die Küchentür ging quietschend auf und fiel wieder ins Schloss.
Swisch, fuhr die Klinge über den Wetzstein, swisch-swisch, eine hochtönende Klinge für die Beschneidung, eine tiefer tönende für das Schächten von Tieren … swisch … swisch.
Die Mädchen drückten einander die Hände, um sich zu vergewissern, ob die andere es auch hörte. Zalman stand an der Küchenspüle und schärfte die Ritualmesser. Das Gesetz forderte das sicher nicht, zumindest nicht jetzt, mitten in der Nacht. Zalman selbst musste das Bedürfnis verspürt haben, es zu tun. Swisch … swisch … immer schneller gingen die Messer, und immer schneller ging sein Atem. Oder hörten sie ihren eigenen Atem?
Das Geräusch verstummte. Zalmans Schritte gingen wieder an den Kisten vorbei. Eine Schublade in seinem Sekretär wurde aufgezogen, dann drehte sich der Schlüssel des Sekretärs im Schloss, und die schlafschweren Hände der Mädchen glitten auseinander.
Am nächsten Morgen wurden sie von den Schwalben geweckt, die neue französische Lieder sangen. Mila lehnte sich ins Licht hinaus, das von silbernen Dächern floss und Schattenkringel auf die abblätternden Fensterläden warf. Das Lachen der jüngeren Kinder im Nebenzimmer übertönte fast das Geräusch des Haustürriegels, der auf- und wieder zuschnappte: Zalman ging zum Morgengebet. Auf Zehenspitzen schlichen die Mädchen am Esszimmer vorbei, in dem das geblümte Wachstischtuch noch immer Reisefalten hatte, und huschten ins Elternschlafzimmer, wo sie zu Hannah ins Bett schlüpften. Bald kamen auch die kleineren Kinder ins Zimmer gelaufen, und sie kuschelten sich alle an Hannah: Mila, Atara, Schlomo und die beiden Kleinen. Hannahs Bett war ein breiter weißer Kahn und ihre Daunendecke ein Segel, das sie durch den fremden Morgen führte.
Eine Lichtperle schwebte durch die Lamellen des Fensterladens und blieb auf Hannahs Nachthaube liegen. Die kleine Etti versuchte sie zwischen Daumen und Zeigefinger zu nehmen. Hannah lachte. Da begann das Baby in der Wiege zu wimmern. »Milenka, meine Älteste, kannst du den kleinen Mendel Wolf vorsichtig zu mir hertragen?« Mila sprang aus dem Bett, beugte sich über die Wiege und hob das Baby hoch. Hannah öffnete die obersten Knöpfe ihres Nachthemds. Die Kinder sahen zu, wie die winzigen Fäuste sich um Hannahs Brust schlossen, sahen die winzigen gierigen Lippen. Sie machten es sich wieder in ihren warmen Höhlen bequem.
Als Zalman vom Morgengebet zurückkam, eilte Hannah aus dem Zimmer. Seufzend legte Zalman den schwarzen Hut auf der Garderobe ab. In Hannahs warmes Bett gekuschelt, hörten die Kinder den Ärger in seiner Stimme. Er berichtete Hannah von der Gemeinde: Ob er dort jemanden wie Milas Vater finden würde, mit dem er seine Leidenschaft für das Thorastudium teilen konnte? Wie weit hatten sie sich doch vom Hof des Rebbe entfernt, wo ein Jude spürte, dass er lebte!
Beim Frühstück wollte Schlomo, der sich über das neue französische Brot wunderte, unbedingt jedes einzelne Loch in seiner Scheibe mit Butter gefüllt haben. »Atara, dieses bitte auch! Es schaut mich an …«
Zalman trat ins Zimmer, und Schlomo wurde still. Zalman nahm seinen Platz am Kopfende des Tisches ein und seufzte.
Schlomo sah zu, wie die Butter in seiner Brotscheibe versank. Er griff nach dem Messer und versuchte, noch mehr Butter auf die Scheibe zu schmieren. Schließlich legte er das Messer beiseite und drückte die Butter mit dem Finger in die Löcher. Atara unterdrückte ein Kichern. Schlomo warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu.
Zalmans Faust knallte auf den Tisch.
»Gojim können ihre körperlichen Bedürfnisse nicht kontrollieren, aber für einen Juden zählt nur Gottes Wille!«
Die Kinder rührten sich nicht.
»Nu?«, wandte sich Zalman an seinen ältesten Sohn. »Wenn der Herr zum Volk Israel sagt Und ihr sollt mir ein heiliges Volk sein – was bedeutet dann das Wort heilig in dem Satz?«
»Eigen«, antwortete Schlomo. »Im Midrasch Rabba steht geschrieben, dass heilig eigen bedeutet.«
»Gut. Und ihr sollt mir ein heiliges Volk sein, ihr sollt euch unterscheiden. Denkt immer daran, solange wir durch diese Pariser Wildnis wandern: Wenn wir Juden uns wie andere Völker benehmen, wird Gott uns bestrafen.« Sein Ton wurde schärfer. »Nach allem, was wir durchgemacht haben, müsste der Messias längst hier sein, doch
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