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Ich bin verboten

Ich bin verboten

Titel: Ich bin verboten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anouk Markovits
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Siebenbürgen, Bukowina und Galizien, aus der Slowakei, aus Böhmen und Mähren, aus Podolien, Wolhynien und Schlesien … Sie trommelten einander zusammen: Juden, die gern vergessen hätten, dass sie Juden waren, und dünne, gebeugte Gestalten, die wussten, dass sich jemand erinnern würde; Juden, die kein Rumänisch sprachen, und Juden, die nur Rumänisch sprachen. Sie kamen alle und versammelten sich in Zalmans bescheidener Synagoge in der alten Stadt Sibiu/Nagyszeben/Hermannstadt.
    Als sich Zalmans Stimme erhob, drängten die Versammelten nach vorne. Von den ersten Sitzreihen bis zu den hintersten Stehplätzen, unten in der Männerabteilung und oben auf der Frauenempore, auf den Treppen und in den Vorräumen – alle wollten sie so nah wie möglich an das erhöhte Podest, auf dem Zalman in seiner weißen Robe dafür betete, dass die Juden in diesem Jahr ins Buch des Lebens eingeschrieben würden.
    Zalmans Stimme schwoll an, El malej rachamim … Gott voller Erbarmen. Doch einige der Seufzenden baten nicht um Vergebung, sondern um Wiedergutmachung.
    Während des Totengedenkens schlüpften die Kinder, die noch Eltern hatten, an den Tränen vorbei und verließen die Synagoge. Sollte drinnen zufällig noch ein nicht verwaistes Kleinkind aufgefunden werden, das sich zwischen den Beinen der Erwachsenen verlaufen hatte, würde jemand aufschreien, als wäre das Gleichgewicht der Versammlung gestört: »Lasst das Kind nach draußen! Es gehört nicht zu den Trauernden!« Atara und die jüngeren Geschwister spielten während des Totengedenkens im Hof, doch Mila und Josef blieben in der Synagoge.
    Josef erkannte den Gesang, Zalman hatte ihn bereits an den Gräbern angestimmt: El malej rachamim … Doch in Zalmans Synagoge traf die Trauer des Jungen nicht auf stumme Ackerfurchen, nicht auf Erntearbeiter, die sich auf Heugabeln stützten und Florinas Bastard verspotteten; in Zalmans Synagoge gaben Klagen und Gebete dem Verlust Bedeutung. Hier weinten alle mit dem Jungen, der sich daran erinnerte, wie die wollenen Gebetsschals und vergilbten Bücher in der Synagogenbank seines Vaters gerochen hatten.
    Da spürte der Junge, wie sich ein Teil von ihm nach dem Namen sehnte, auf den er hörte, als er noch Mutter, Vater und Schwester hatte.
    Wenige Wochen später trafen Josefs Papiere ein.
    *
    Die ganze Familie begleitete Josef zum Bahnhof: Zalman, Hannah, die ihr neues Baby an sich presste, Mila und die Sternkinder, die sich an den Händen hielten.
    Die Zugtüren knallten zu. Josef, der hinter seiner Daunendecke kaum noch zu sehen war, tauchte an einem Fenster wieder auf. Sein Gesicht war immer noch gebräunt, doch ohne den Rahmen aus Haaren wirkte es nackt und zerbrechlich.
    Pfeifen schrillten. Der Zug rollte an.
    Josefs Blick ruhte auf Mila, auf ihren fliegenden Zöpfen, als sie neben dem Waggon herrannte.
    Der Zug schmolz zu einem Punkt zusammen und verschwand. Mila stand mit schlaff herabhängenden Armen am äußersten Rand des Bahnsteigs und blickte auf den Schotter zwischen den leeren Gleisen.

BUCH II

Herbst 1947
    Zalman versammelte die Familie in seiner Studierstube. Die Talmudfolianten, die sonst immer geöffnet auf dem Schreibtisch lagen, waren in Tücher gewickelt. »Kinder, ihr mögt Sibiu mittlerweile für eure Heimat halten, doch bis zu dem Tag, an dem der Allmächtige uns aus dem Exil führt, gibt es für uns Juden keine Heimat.« Er nahm einen Stapel Folianten und packte sie in eine Holzkiste. »Die Regierung schließt unsere Schulen, und die Kommunisten – mögen ihre Namen ausgelöscht werden – wollen, dass ihr vergesst, dass ihr Juden seid. Eine kleine Gemeinschaft in Paris braucht einen Kantor. Wir gehen weg.«
    Mila und Atara blickten überrascht auf. Sie hatten Zalman sehnsüchtig von den großen Jeschiwastädten Pressburg, Slobodka und Lezhinsk reden hören, aber niemals von Paris. Mila griff nach Ataras Hand. Wenn sie schon gehen mussten, dachte sie erleichtert, würden sie wenigstens zusammen gehen.
    Die Kinder durften nicht traurig sein, da es schon viel schlimmere Abschiede gegeben hatte; genauso wenig sollten sie sich darüber freuen, zur Wanderschaft verurteilt zu sein. Als die Mädchen von ihrer Freundin Marika in den Hof zum Spielen gerufen wurden, sagte Hannah, sie hätten keine Zeit mehr zum Spielen und Abschiednehmen. Sie hörten, wie Marikas Kieselstein gegen die anderen Kiesel stieß und sie dann zählend über die Kreidelinien hüpfte. Sie hörten die Stille in dem Moment, als Marika den

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