Ich bin verboten
Zielstein hochnahm. »Atara, Mila, ich habe gewonnen!«
Als Mila und Atara am letzten Morgen in ihrem gemeinsamen Bett aufwachten, lauschten sie dem Schwalbengezwitscher unter den Dachtraufen. Später halfen sie, die Pappkoffer und Kleiderbündel zum Pferdekarren zu tragen und ihn zu beladen.
Hannah drückte ihr Baby fest an sich, kletterte auf die Ladefläche und nahm oben auf dem Gepäck Platz. Zalman hob die kleinen Kinder hoch und setzte sie neben ihre Mutter. Mila und Atara gingen zu Fuß hinter dem Karren her, gefolgt von Zalman und dem ältesten seiner Söhne, dem fünfjährigen Schlomo.
Marika lief Seil springend neben den Mädchen her, bis der Wagen um die nächste Ecke bog. »Ihr kommt nicht zurück? Nie mehr?« Sie stand an der Ecke, hüpfte von einem Fuß auf den anderen und rief ihnen nach: »Nie, nie, nie?«
Mila und Atara halfen, die Bündel und Koffer in den Zug zu laden. Die Familie ließ sich in einem Abteil nieder. Der Zug rollte aus dem Bahnhof, der Wetterhahn auf der Kupferkuppel flog fort. Die Turmuhr wurde immer kleiner und war bald nicht mehr zu erkennen. Die großen Wohnblocks wichen kleineren Häusern, denen mit Stroh gedeckte Hütten folgten und Frauen mit Kopftüchern, die in ihren Gemüsebeeten arbeiteten. Die Kinder winkten den Frauen, dem Pferd vor dem Holzkarren, den Käsebeuteln, die von Verandadächern baumelten, den Südkarpaten und der Abenddämmerung über dem Fluss Cibin.
Die Dunkelheit ratterte am Fenster vorbei. Das Baby wimmerte, und Hannah legte es an die Brust. Das Schmatzen durchdrang das Abteil. Atara lehnte den Kopf an Milas Schulter, und Mila lehnte den Kopf gegen Ataras Kopf. Die beiden Mädchen, die unbedingt jeden Moment der Reise wach auskosten wollten, wurden bald vom Schlaf überwältigt.
»Die Henne! Sie rennt aus dem Zug!«, schrie Mila laut auf.
Hannah beugte sich über die Mädchen. »Psst. Es ist ein Traum. Es ist nur ein Traum.«
»Aber die Henne will nicht sterben!«, protestierte Mila.
»Psst! Du weckst noch das Baby auf.«
»Wir sind in Sicherheit«, flüsterte Atara Mila ins Ohr. »Wir sitzen in einem Personenzug, wir fahren nach Paris, um leben zu können.«
»Glaubst du, dass ich den Rebbe im Zug gesehen habe?«, flüsterte Mila zurück. Es klang drängend, als fürchte sie, auch ihre Erinnerungen zurücklassen zu müssen.
Atara zögerte. »Aber warum hat es kein Wunder gegeben, wenn der Rebbe im Zug war?«
Mila rückte von ihr weg und lehnte den Kopf gegen die Fensterscheibe. »Ich habe ihn gesehen. Er hat einen weißen Mantel getragen und nicht von seinem Buch hochgeblickt, aber ich habe ihn gesehen.«
Mila schlief wieder ein, und ihr Kopf schlug gegen die ratternde Fensterscheibe. Atara zog sanft an Mila, bis deren Kopf wieder auf ihrer Schulter lag. Die Abteiltür ging auf und wieder zu, Atara lauschte dem Geräusch des Einrastens: Ihre erste Schiebetür, die erste blaue Glühbirne, die Schatten auf Zalmans Bart warf, der ungewohnte Akzent des Schaffners – ab jetzt würde alles, was geschah, neu sein. Sie schaute zu Zalman hinüber, um sicherzugehen, dass er ihre freudige Erregung nicht bemerkte, und blickte dann wieder in die schnell vorbeiziehende Nacht hinaus.
In Oradea und Budapest mussten sie umsteigen; sie überquerten die österreichisch-ungarische Grenze, die wenige Monate später für über vierzig Jahre geschlossen werden sollte. In Wien stiegen sie noch einmal um. Während die Bahnhöfe an ihnen vorbeizogen – Linz, München, Stuttgart –, Städte, Kleinstädte und Dörfer, in denen es kein jüdisches Leben mehr gab, rezitierten Zalman und Hannah Psalmen, die über die Wangen der Kinder streichelten.
Paris
Die Sterns bezogen die Wohnung im vierten Stock eines Hauses in der Rue de Sévigné im Marais, dem jüdischen Viertel. Mila und Atara teilten sich weiterhin ein Zimmer, hatten jetzt aber Einzelbetten. In der ersten Nacht stellten sie einen Stuhl zwischen die beiden kupfernen Bettgestelle, auf den sie ihre ineinander verschränkten Hände legten, denn sie wollten sich auch im Schlaf nicht trennen.
»Françoise!«, schallte eine Stimme durch den Hof, und die Finger der Mädchen zuckten beim Tonfall der neuen Vokale. »Françoise!« Im Stillen übten sie, ihre neue Adresse im qua-tri-ème ar-ron-dis-sement auszusprechen.
Die Geräusche verebbten, die Nachbarschaft ging schlafen. Auch die Mädchen träumten fast schon, als sie plötzlich Zalman aus dem Elternschlafzimmer treten hörten. In Sibiu war er nachts oft
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