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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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nicht zu wecken, aus der Küche einen hölzernen Zuber geholt, ihn aus dem Ziehbrunnen hinter dem Haus gefüllt und hatte ihn auf einen Stuhl gestellt, um mir die Füße zu waschen. Ich war fast damit fertig, als ich merkte, wie die Blicke meiner Mutter mit stechendem Ausdruck auf mich gerichtet waren. Hätte sie doch nur gefragt! Hätte sie mich gescholten! Hätte sie mir, was ja früher ab und zu geschehen war, lachend einen klatschenden Schlag auf die Wangen gegeben. Er hätte weniger geschmerzt als dieser stumme Blick, dessen Bedeutung ich wohl verstand. Er sollte sagen: Du bist also wieder! Ohne daran zu denken, wie ich mich beunruhige, mußtest du ins verbotene Moor gehen. Du bist eingesunken, und Gott weiß, wer dich herausgezerrt hat, damit du nicht zugrunde gehst wie so mancher andere zuvor. Du hast nicht genug gehabt von deinem blöden Abenteuer mit dem Pferd, das mich und deinen Vater soviel Sorge und ein Stück Gesundheit gekostet hat. Sie sagte nichts. Sie hustete, wie ich sie nicht hatte husten hören seit dem ersten Abend nach der Ankunft in Altötting, und preßte ihr Taschentuch auf den blassen, jetzt so strengen Mund. Ich lief mit bloßen Füßen über den nackten Estrich zu ihr hin, ich wollte ihre Hand küssen oder meine Stirn an ihren Hals legen wie damals, als mir das Blut in höchster Gefahr aus der Lunge gekommen war. Sie rührte sich nicht von der Stelle. Nichts hinderte mich. Aber ich ging ungeküßt und unangeschmiegt zurück. Ich trug den Zuber mit dem Schmutzwasser so ungeschickt aus dem Zimmer, daß er überschwappte. Nachts lag ich lange wach, mein Vater kam spät heim, er hatte sich als ortsangesessener Grundstücksbesitzer von einem kleinen Tanzvergnügen der Bürger von S. nicht ausschließen können. Er sang sogar leise vor sich hin, was er doch so selten tat.
    Ich dachte im stillen, vielleicht finde ich wenigstens in dem Zweitältesten des Doktor Kaiser einen Kameraden. Dessen Schüchternheit rührte daher, daß er sowohl von seinem ›großmächtigen‹ Vater als auch von seinen zwei Brüdern hart hergenommen wurde. Der älteste hatte eben das Erstgeburtsrecht und die größere Körperstärke für sich, der jüngste war der Benjamin, das verzärtelte Lieblingskind. Bloß an ihm war nichts Besonderes.
    Er hatte sich aber damit abgefunden. Sein ›Herr Vater‹ hatte bei Strafen keine leichte Hand. Ich versuchte, ihm mein Geheimnis der Schmerzlinderung durch Atemanhalten beizubringen. Er hatte eine andere Methode, er zählte von hundert nach rückwärts.
    Er berichtete mir sehr Aufregendes und für einen Jungen meines Alters Unbegreifliches von den Kranken seines Vaters. Das Grauenhafteste aber war, daß er von Hunden erzählte, es seien Hunde auf Urlaub, die der Vater aus dem ›klinischen Zwinger‹ herausgeholt habe. Es waren herrenlose Hunde, vom Schinder in den Straßen zusammengefangen, von den Besitzern nicht vermißt, die zu schmerzhaften Versuchen, von deren Ziel und Zweck wir uns natürlich nichts vorstellen konnten, bestimmt waren. Unter diesen vielen Dutzend Hunden waren immer ein paar Jagdhunde, diese holte der Herr Vater bei Beginn der Ferien heraus, gab ihnen ein paar schöne Wochen Urlaub und überließ sie dann ihrem schauerlichen Schicksal. Ich fand es nämlich schauerlich, dem phlegmatischen Helmut schien es nichts Besonderes. Dabei war er eines warmen Gefühls fähig, sprach viel von seiner Mutter und seinen zwei Schwestern, vergoß sogar etwas wie eine Träne beim Abschied von mir und versprach zu schreiben. Er und seine Geschwister wurden nämlich nicht beim Vater erzogen, sondern bei den Müttern. Jedes Kind stammte von einer anderen Frau, die in drei verschieden Städten wohnten. Der Vater hielt jetzt bei der vierten.
    Ende August wurde das Wetter wieder sehr schlecht. Anfang September begann es gar zu schneien. Meine Mutter machte meinem Vater, als sei er an dem Mißwetter schuld, bittere Vorwürfe, mit absichtlich leiser Stimme sprechend, wie um ihre Schwäche zu betonen, was dieser damit beantwortete, daß er ihr im Scherz vorschlug, sie solle die Koffer packen. Er war erstaunt, als am nächsten Morgen die Koffer wirklich gepackt waren und der Lohndiener mit seinem zeisiggrünen Handwägelchen vor dem Garteneingang stand, um sie zur Bahn zu bringen. Er war während der ganzen Zeit sehr fester und froher Stimmung gewesen, mir gegenüber kameradschaftlich. Er führte lange Gespräche mit mir über den Judenkaiser und den Narrenkaiser und vergaß sogar die

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