Ich - der Augenzeuge
sagen, hätte ich vielleicht viel Unheil verhüten können.
Aber ich wollte doch nur das Beste. Aufregungen waren für die Arme, die jetzt schnell von Kräften kam, ›reines Gift, Ratzengift‹, wie sich der Judenkaiser banal ausdrückte. ›Weinen verboten‹, kommandierte er ihr, einen burschikos soldatischen Ton annehmend, als sie die Entscheidung, sie müsse sich einer kleinen Punktion des Brustfells unterziehen, mit Tränen aufnahm. Wie schnitten sie mir ins Herz! Ich kann nicht beschreiben, wie es mich zermalmte. Und ich mußte eine gelangweilte Miene aufsetzen und mich bemühen, ihr mein Gefühl nicht zu zeigen. Hätte doch meine arme Mutter (zum zweitenmal nenne ich sie arm in wenigen Zeilen) an einer anderen Krankheit gelitten! Aber gerade Schmerzen in der Lunge, am Rippenfell kannte ich aus eigener furchtbarer Erfahrung nur zu gut.
An dem Tage, an dem der Eingriff vorgenommen werden sollte, wollte ich früh am Nachmittag das Haus verlassen. Der Arzt hatte ihr vorgeschlagen, sie solle in einem Wagen zu ihm kommen. Er wollte den Eingriff schmerzlos, im Rausch, ausführen und sie dann, in Decken gehüllt, wieder heimbringen. »Nein«, sagte sie, »mich bringen tausend Pferde nicht von der Stelle.« – »Mit zweien wäre es genug«, sagte er, sarkastisch am falschen Ort. Sie klammerte sich an ihr Haus, an mich. Was sollte ich tun? Ich blieb. Was ich gefürchtet hatte, trat ein, meine Anwesenheit erleichterte meiner Mutter in nichts die Pein. Ich hörte ihr Wimmern aus dem Nebenzimmer. Sie rief nach mir, und ich durfte nicht kommen. Und der Arzt, bei aller seiner Tüchtigkeit und Rechtlichkeit ein Unmensch – in diesem Augenblick zumindest schien es mir so –, sagte der Armen, sie solle sich an mir ein Beispiel nehmen, der das gleiche ›Operatiönchen‹ mit stoischer Seelenruhe aufgenommen habe, und sie solle sich nicht meschugge machen! Meine Mutter, kurze keuchende Atemzüge tuend, antwortete zuerst nichts. Nach ein paar Minuten fragte der Arzt, ob sie sich nicht schon etwas leichter fühle. Er hatte, wie ich später erfuhr, einen kleinen eitrigen Erguß aus der Brusthöhle entfernt, und es war ein segensvoller Eingriff, genau wie der an mir vor Jahr und Tag. Aber meine Mutter war nicht dankbar oder wollte es nicht zeigen. Mit etwas Bosheit fragte sie den Arzt zurück, ob er erstens immer hebräische Ausdrücke wie ›meschugge‹ anwenden müsse, und zweitens, ob er nicht fürchte, mich größenwahnsinnig zu machen, wenn er mich, einen ›Rotzjungen‹, ihr, der erwachsenen, zum Sterben kranken Frau, als Beispiel vorhalte.
Darauf blieb er, endlich taktvoll, die Antwort schuldig – und sie ihm das Honorar. Ich sah, als ich ins Zimmer hineinkam, daß er darauf wartete, denn seine Einkünfte mochten nicht sehr glänzend sein, da er eine Menge mittelloser Menschen umsonst behandelte, und ich entsann mich seiner Freude beim Anblick des Zwanzigmarkstücks, das ihm seinerzeit meine Mutter für mich gegeben hatte. Aber zu tun war nichts. Er empfahl sich, sie legte sich mit einem langgezogenen weiten Atemzug, der ihr offenbar sehr wohl tat, auf der Chaiselongue zurecht. Ich blieb bei ihr, ich hielt ihre feinen Hände fest und sprach nichts. Auch mein Atem ging jetzt leichter, besonders als ich eine Stunde später sah, daß die Temperatur beträchtlich gesunken war, was man vorher auch durch Umschläge nicht hatte bewirken können. Gegen fieberstillende Medikamente war aber meine Mutter ebenso wie der Arzt gewesen.
Mein Vater kam diesmal etwas später wie sonst heim, er strahlte über das ganze Gesicht, schon bevor er das günstige Ergebnis des ›Operatiönchens‹ erfahren hatte. Aus seiner Brusttasche holte er ein kleines Etui in rotem Saffianleder und reichte es meiner Mutter hin. Es war eine kleine Brosche mit einem ziemlich kostbaren Stein, einem Smaragd. Ich weiß nicht, wie meine Mutter daraufkam, diese Gabe sei ein Zeichen bösen Gewissens. Sie begann trotz des Verbots ›Weinen verboten‹ zu weinen. Wir trösteten sie. Das Sinken des Fiebers war das beste Zeichen, und sie kam an diesem Abend zum erstenmal unter 38 Grad, und weshalb sollten mein Vater und ich ein böses Gewissen haben, wo wir doch voll Mitgefühl waren? Aber sie empörte sich gegen sein und mein Mitgefühl. »Tröstet euch«, sagte sie fast unhörbar leise, als wolle und müsse sie sich schonen, konnte aber ihr gerechtes Gefühl nicht ganz unterdrücken, »tröstet euch, ich werde euch bald eure Freiheit geben und bescheiden in die
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