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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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schöne Judenprinzessin, die junge Viktoria, nicht.
    Meine Mutter hatte sich etwas erholt. Sie war aber immer noch sehr ernst und lachte fast nie. Einmal hatte ich in der gebrauchten Wäsche gestöbert, so widerlich mir dies war. Ich wollte sehen, ob noch blutbenetzte Tüchelchen darunter waren. Das böse Gewissen trieb mich. Als ich sah, daß nichts Derartiges da war, wurde mir wieder wohler.
     
    In der nächsten Zeit, ja eigentlich bis zu meinem endgültigen Fortgehen von zu Hause, nach dem Prozeß meines Vaters, war mein Leben geteilt: auf der einen Seite meine Schule und das Lernen, das Raufen und Sich-wieder-Vertragen, der Fußball und Handball und was sonst einen gesunden Jungen meines Alters inmitten seiner Kameraden beschäftigt, bis zum Lesen von Abenteuerromanen und dem Sammeln von Briefmarken, worauf mich Helmut gebracht hatte – und auf der anderen Seite die Sorge um meine Mutter. Warum verstand sie es nicht? Ich konnte doch nicht Tag und Nacht um sie herum sein? Einstens wäre ich ein Stück von ihr gewesen, sagte sie einmal. Aber sie wollte es mir nicht erklären, wie, und ich forschte nicht weiter, wenigstens nicht jetzt und nicht bei ihr. – (Ich erfuhr es später von meinen Kameraden auf grobe Art.)
    Ich wußte nicht, ob ich noch jetzt, wo sich ihre Gesundheit nicht schnell genug einstellen mochte, ein Stück von ihr war, aber sie blieb eines von mir. Ich habe eine schöne Kindheit gehabt, ich sage es auch in Anbetracht dieser Zeit. Ich bin immer kerngesund gewesen, die schwere Verletzung durch das undankbare Pferd war ohne Folgen geheilt. Aber mit einer sonderbaren Bitterkeit machte sie in einem der folgenden Winter eine schwer zu verstehende Bemerkung. Sie verglich nämlich meine schnelle Heilung mit ihrer so langsamen, zögernden und leider auch besonders schmerzhaften. Dabei sei ich an meinem Unglück dazumal mit schuld gewesen, ich hätte mich ›expreß‹ in Gefahr begeben, sie aber nicht! Sie sei fromm, frömmer als mein Vater und ich. Und doch habe sie der Himmel so bitter geprüft, die Wallfahrt nach Altötting habe nichts gefruchtet! (Hatte sie sie meinetwegen getan oder ihretwegen?) Und sie könne sie in ihrem jetzigen Zustand nicht wiederholen, sie würde selbst in einem geschlossenen Wagen nicht bis dorthin kommen!
    Was sollte ich tun? Sollte ich ihr ins Gedächtnis zurückrufen, was ich selbst mit allem Bemühen vergessen wollte, wie sehr auch ich gelitten hatte? Sollte ich versuchen, sie dadurch zu trösten, daß ich log und sagte, ich habe noch ab und zu Stiche, wo ich keine mehr hatte? Ich konnte nicht lügen. Ich habe es nie gut erlernt.
    Ich konnte nichts tun als ihre Hände streicheln. Aber sie waren feucht, und sie trocknete mir die meinen ab, als hätte ich sie mir an den ihren beschmutzt. Ich verstand es nicht – oder ich verstand es nur zu gut. Ich ahnte jeden ihrer Gedanken, sie brauchte nichts zu sagen. Aber das erleichterte uns unser Leben nicht.
    Sie ließ mir scheinbar alle Freiheit. Aber sie sah es, wie schon auf dem Lande, nicht gerne, wenn ich von ihr Gebrauch machte. Nun hatte ich bei aller Liebe oder gerade wegen dieser Liebe in meinen Wachstumsjahren ein ungeheures Bedürfnis nach Freisein, Bewegung und nach Alleinsein. Es trieb mich unwiderstehlich, in der freien Zeit umherzuwandern, die Stadt, die Umgebung zu durchstreifen, allein. Bei diesen Spaziergängen vergaß ich meine Mutter nicht, die inzwischen, eine kleine Handarbeit, die niemals fertig wurde, unter den Händen, in dem einzigen wirklich sonnigen Zimmer unserer Wohnung auf dem Sofa lag, auf einem kleinen Tischchen neben sich das Thermometer, mit dem sie sich alle drei Stunden messen sollte. Im Gegenteil, während dieser Streifzüge war ich mit meiner Mutter zusammen, aber in einer anderen Weise, in einer viel innigeren und süßeren Art, als wenn es ihr gelungen war, mich ein oder das andere Mal festzuhalten. Wenn ich in den Straßen, auf den Feldern, am Flusse oder im Walde allein war mit meinen Gedanken an sie, liebte ich sie am tiefsten, und dann war ich auch am glücklichsten. Ich versuchte, es ihr einmal zu erklären. Sie ließ mich meinen Spruch dreimal wiederholen, dann schüttelte sie den Kopf bei zusammengepreßten Lippen, die dadurch noch mehr Blässe und Runzeln bekamen. Sie wollte nicht hören, es war vergebens.
    Dabei verstand ich wohl, sie wehrte sich nicht so gegen mich wie gegen ihre Krankheit. Der Arzt war jetzt wieder oft bei uns. Er riet, meine Mutter solle in ein Sanatorium, er

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