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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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garantiere für eine Heilung in zwei bis drei Monaten, denn ihr Fall sei ›gutartig‹, und sie sei über das kritische Alter, nämlich das bis zu 30 Jahren, hinaus. Sie lächelte aber eher spöttisch als vertrauensvoll. Nachher bemerkte sie zu mir, der Arzt als Jude habe immer solche niedrigen Geschäftsausdrücke wie ›Garantie‹ im Munde, und er bilde sich soviel auf die Jugend seiner Tochter Viktoria ein, so daß er ihr, meiner Mutter nämlich, ihr Alter nachrechne, worauf ein anderer, ein christlicher Arzt, nicht gekommen wäre. Und so lieb ich den Arzt und auch seine Tochter hatte, die manchmal, eine Wachsleinwandrolle mit Schachmuster unter dem Arm und eine Schachtel voll klappernder Schachfiguren in ihrem Handbeutel, zu uns kam, mit mir oder meinem Vater Schach zu spielen, jetzt überredete mich meine Mutter, und ich wollte ihm nicht wohl. Seine Tochter freilich – ich war sehr jung und sie in ihrer ersten Blüte! Es ging ein Duft von ihr aus wie von einer Rose, die in der Sonne steht und die nicht recht weiß, soll sie sich schon öffnen oder nicht. An ihr habe ich zuerst die Wölbung der Brust, die geschmeidige Fülle der schlanken Hüfte wahrgenommen. Ich sah sie von der Seite an, benommen, wie berauscht. Sie ahnte nichts und zog gleichmütig ihre Schachfiguren auf der spiegelnden Wachsleinwand; sie wollte immer gewinnen. Wir waren schwache Spieler, und sie hätte uns auch einmal ein Schach und Matt gönnen können.
    Es kam die Zeit, wo ich mich entscheiden mußte, ob ich die Real- oder die Gymnasialabteilung unserer Schule besuchen wollte. Ich war mittelmäßig. Wozu es leugnen? Die Professoren rieten mir also nicht zu dem viel schwereren und länger dauernden Besuch des Gymnasiums, wo das fast unerlernbare Griechisch studiert werden mußte, das schon durch seine ganz absonderlichen Lettern seine Schwierigkeit bekundete. Aber das Gymnasium war die Vorbedingung für die Universität, für den Beruf des Arztes. Ich mußte also meinen Vater bitten, er möchte es mir erlauben. Er hatte sich in den letzten Jahren etwas verändert. Unser Haushalt kostete mehr Geld, er mußte mehr arbeiten, mußte sogar Arbeit mit nach Hause nehmen. Er mußte sich an seine Pläne und Grundrisse machen. Ich sah gespannt zu, wie er die kleine viereckige Flasche mit der wohlriechenden schwarzen Tusche öffnete und das Reißzeug aus dem Lederetui nahm. Meine Mutter betrachtete uns beide von der Chaiselongue aus. Sie hatte uns in der letzten Zeit oft vorgeworfen, daß sie uns das große Opfer gebracht habe, nicht ins Sanatorium zu gehen, weil sie uns nicht hatte allein hausen lassen wollen. Ihr war vielleicht eine Art Eifersucht nicht fremd, und sie sah den Besuch Viktorias sehr ungern. Sie hatte eines Tages ein hübsches, fleißiges und anstelliges Dienstmädchen, Vroni aus dem Allgäu, ohne Angabe von Gründen entlassen und war meinem Vater während einiger Wochen böse gewesen, als er sich nach dem Anlaß dieser Maßnahme erkundigen wollte. Ihre Krankheit war es wohl, die sie so mißtrauisch machte.
    Mein Vater hörte sich meine Bitte, ins Gymnasium gehen zu dürfen, zerstreut an, die Reißfeder mit der Tusche füllend und mit einem Stück Löschpapier außen über das glänzende feine Gerät fahrend, um es von der überschüssigen Tusche zu reinigen. Er sagte aber nicht nein. Besonders lieb war es ihm nicht. Vielleicht glaubte er, ich wolle etwas Besseres werden als er. »Ich als bescheidener Königlich Bayrischer Oberingenieur bin auch ohne Griechisch selig geworden«, sagte er, »aber tu, was du willst.«
     
    Ich war über diese Antwort sehr froh und kam schnell zu ihm. Wahrscheinlich wollte ich ihm um den Hals fallen. Gerade weil er mir in der letzten Zeit etwas fremd geworden war, wollte ich ihm für seine Zustimmung besonders danken. Er ließ sich zwar meine Umarmung gefallen, breitete jedoch dabei beide Hände flach über seinen Plan aus. Aber es war schon zu spät. Ich hatte gesehen, daß der Plan, der zum Teil nur mit Bleistift ausgeführt war, kein Brückenprojekt darstellte – sondern ein mehrstöckiges Haus in Aufriß und Grundriß. Meine Mutter bemerkte meine Verwirrung, die ich in der Überraschung nicht schnell genug verbergen konnte. Sie fragte mich einige Tage nachher nach der Ursache. Ich sagte, ich wisse nicht, wovon sie spreche. Ich habe niemals gut lügen können. Hätte ich doch lieber geschwiegen! Mein törichtes Wort machte sie noch mißtrauischer. Hätte ich aber den Mut gehabt, die Wahrheit zu

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