Ich finde dich
auch der Name des Bruders auf der Liste.«
Ich versuchte zu verstehen, was sie mir sagen wollte. »Wenn ich dich richtig verstehe, stand Natalies Name also auf einem dieser Dokumente aus den Schließfächern?«
»Genau.«
»Ein eigenes Schließfach hatte sie aber nicht?«
»Nein. Es wurde in Todd Sandersons Schließfach gefunden.«
»Und was war es? Um was für ein Dokument handelte es sich?«
Shanta drehte sich um und sah mir in die Augen: »Ihr Testament.«
ZWEIUNDDREISSIG
D as FBI , sagte Shanta, würde gern erfahren, was ich über die ganze Sache wusste. Ich sagte ihr die Wahrheit: Ich wusste nichts darüber. Ich fragte Shanta, was in dem Testament stand. Es war sehr einfach. Ihr gesamter Besitz sollte gleichmäßig zwischen ihrer Mutter und ihrer Schwester aufgeteilt werden. Außerdem wollte sie eingeäschert werden, und interessanterweise sollte die Asche im Wald oberhalb vom Campus am Lanford College verstreut werden.
Ich dachte zuerst über das Testament nach, dann über den Fundort. Die Antwort war noch nicht greifbar, ich hatte aber den Eindruck, dass ich ihr immer näher kam.
Als ich mich auf den Weg machen wollte, fragte Shanta: »Bist du sicher, dass du wirklich keine Ahnung hast, was das bedeuten könnte?«
»Ganz sicher«, sagte ich.
Ich dachte aber, dass ich inzwischen womöglich doch eine Ahnung hatte. Die wollte ich allerdings weder mit Shanta noch mit dem FBI teilen. Ich traute Shanta insoweit, wie ich jemandem trauen konnte, der mir offen gesagt hatte, dass sie in erster Linie den Strafvollzugsbehörden verpflichtet war. Daher wäre es eine Katastrophe, ihr etwas über Fresh Start zu erzählen. Der springende Punkt war jedoch, dass Natalie selbst den Strafvollzugsbehörden nicht vertraut hatte.
Warum eigentlich nicht?
Darüber hatte ich überhaupt noch nicht nachgedacht. Natalie hätte der Polizei vertrauen und eine Aussage machen können, worauf sie in ein Zeugenschutzprogramm oder etwas Ähnliches aufgenommen worden wäre. Das hatte sie aber nicht getan. Warum nicht? Sie musste irgendetwas wissen, das sie davon abhielt. Und wenn sie der Polizei nicht vertraute, warum um alles in der Welt sollte ich das tun?
Wieder holte ich mein Handy aus der Tasche und rief Malcolm Humes Nummer in Florida an. Wieder ging niemand ran. Jetzt reichte es. Ich eilte rüber zum Clark House. Mrs Dinsmore machte es sich gerade an ihrem Schreibtisch bequem. Sie sah mich über ihre Lesebrille hinweg an. »Sie dürften nicht hier sein.«
Ich verkniff mir eine Verteidigung oder einen dummen Spruch. Ich erzählte ihr von meinen erfolglosen Versuchen, Malcolm Hume zu erreichen.
»Er ist nicht in Vero Beach«, sagte sie.
»Wissen Sie, wo er ist?«
»Das weiß ich.«
»Könnten Sie es mir sagen?«
Sie ließ sich etwas Zeit, während sie ein paar Papiere aufeinanderlegte und sie mit einer Büroklammer fixierte. »Er ist in seiner Hütte in der Nähe vom Lake Canet.«
Dahin hatte er mich vor vielen Jahren einmal zu einer Angeltour eingeladen. Ich war aber nicht hingefahren. Ich hasste Angeln. Ich verstand nicht, warum man das tun sollte, andererseits war ich noch nie der Typ für entspannte, meditative Tätigkeiten gewesen. Es fällt mir schwer herunterzufahren. Ich lese lieber, als zu entspannen. Mir ist es lieber, wenn das Gehirn beschäftigt ist. Ich erinnerte mich aber, dass er mir erzählt hatte, das Grundstück befände sich seit Generationen in Besitz der Familie seiner Frau. Im Scherz hatte er einmal gesagt, er käme sich dort gern wie ein Eindringling vor, weil es sich dann mehr wie Urlaub anfühlte.
Oder auch wie das perfekte Versteck.
»Ich wusste gar nicht, dass er das Grundstück noch hat«, sagte ich.
»Er kommt ein paar Mal im Jahr hier rauf. Er genießt die Abgeschiedenheit.«
»Auch das wusste ich nicht.«
»Weil er es niemandem erzählt.«
»Ihnen schon.«
»Ja, mir schon«, sagte Mrs Dinsmore, als wäre es das Normalste der Welt. »Er möchte dort keine Gesellschaft haben. Er möchte allein sein, um in Ruhe und Frieden schreiben und angeln zu können.«
»Schon klar«, sagte ich. »Um dem aufregenden, hektischen Leben der geschlossenen Wohnanlage in Florida zumindest für eine Weile zu entkommen.«
»Urkomisch.«
»Danke.«
»Sie wurden beurlaubt«, sagte sie, »also sollten Sie vielleicht besser verschwinden.«
»Mrs Dinsmore?«
Sie sah zu mir hoch.
»Sie wissen, was ich Sie in letzter Zeit alles gefragt habe?«
»Sie meinen die ermordeten Studenten und vermissten
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