Ich hab dich im Gefühl
dir erzählt habe, glaube ich ganz fest.«
»Tut mir echt leid, Joyce«, sagt er, und ich höre, dass er das Gespräch beenden will.
»Nein, warte«, halte ich ihn auf. »Das war es dann?« Schweigen.
»Wirst du nicht mal versuchen, mir zu glauben?«
Er seufzt abgrundtief. »Ich dachte, du wärst anders, Joyce. Ich weiß nicht, warum, weil ich dich ja nie getroffen habe, aber ich dachte, du wärst anders, ein anderer Mensch. Das … das verstehe ich nicht. Das finde ich … es ist irgendwie nicht richtig, Joyce.«
Jeder Satz ist wie ein Dolchstoß ins Herz, ein Schlag in den Magen. Von allen Menschen auf der Welt könnte ich das ertragen, aber nicht von ihm. Nein, nicht von Justin.
»Du hast in letzter Zeit anscheinend eine Menge durchgemacht, vielleicht solltest du … mit jemandem reden.«
»Warum glaubst du mir nicht? Bitte, Justin. Es muss doch etwas geben, womit ich dich überzeugen kann. Etwas, was ich weiß, was aber in keinem Artikel oder Buch oder Vortrag von dir je vorgekommen ist …« Ich breche ab, denn mir ist plötzlich etwas eingefallen. Aber nein, damit kann ich ihm jetzt nicht kommen.
»Leb wohl, Joyce. Ich wünsche dir das Allerbeste, wirklich.«
»Warte! Noch einen Moment. Etwas, was nur du wissen kannst.«
Er hält inne. »Was?«
Ich kneife die Augen fest zusammen und atme tief durch. Tu es oder lass es sein. Tu es oder lass es sein. Schließlich öffne ich die Augen wieder und platze heraus: »Dein Vater.«
Schweigen.
»Justin?«
»Was ist mit ihm?« Seine Stimme klingt eiskalt.
»Ich weiß, was du damals gesehen hast«, sage ich leise. »Was du nie jemandem erzählen konntest.«
»Wovon redest du, verdammt?«
»Ich weiß, dass du auf der Treppe gesessen und ihn durchs Geländer beobachtet hast. Ich kann ihn auch sehen. Ich sehe ihn, wie er die Tür zumacht, die Flasche und die Pillen in der Hand. Dann sehe ich die grünen Füße auf dem Boden …«
» HÖR SOFORT AUF DAMIT !«, brüllt er, und ich schweige erschrocken.
Aber ich muss es weiter versuchen, denn vielleicht bekomme ich keine zweite Chance, es zu sagen.
»Ich weiß, wie hart das für dich als Kind gewesen sein muss. Wie schlimm es war, es für dich zu behalten …«
»Du weißt überhaupt nichts«, unterbricht er mich kühl. »Nicht das Geringste. Bitte lass mich in Ruhe. Ich möchte nie wieder etwas von dir hören.«
»Okay.« Meine Stimme ist bloß noch ein Flüstern, aber ich rede sowieso nur noch mit mir selbst, er hat schon aufgelegt.
Dann sitze ich auf der Treppenstufe in dem dunklen leeren Haus und lausche dem kalten Oktoberwind, der ums Haus pfeift.
Das war es dann also.
Einen Monat später
Dreiundvierzig
»Das nächste Mal sollten wir aber wirklich das Auto nehmen, Gracie«, sagt Dad, als wir auf dem Heimweg vom Botanischen Garten die Straße hinunterwandern. Ich hake mich bei ihm unter und werde sofort im Rhythmus seiner schwankenden Schritte auf und ab geschaukelt. Auf und ab, rauf und runter. Ein beruhigendes Schaukeln.
»Nein, du brauchst Bewegung, Dad.«
»Sprich für dich«, brummt er. »Na, wie geht’s denn, Patrick? Scheußlicher Tag heute, was?«, ruft er dem alten Mann mit der Gehhilfe auf der anderen Straßenseite zu.
»Ja, grausig«, antwortet Patrick.
»Und wie fandest du die Wohnung?« Zum dritten Mal in den letzten paar Minuten schneide ich das Thema an. »Diesmal kannst du dich nicht vor der Antwort drücken.«
»Ich drücke mich vor gar nichts, Liebes. Wie geht’s, Patsy? Hallo, Suki!« Er bleibt stehen und bückt sich, um den Dackel zu tätscheln. »Bist du nicht ein süßes Ding?«, meint er, und wir gehen weiter. »Eigentlich hasse ich den Winzling. Bellt die ganze Nacht, wenn Patsy mal nicht da ist«, grummelt er und zieht sich die Kappe noch ein Stück weiter in die Stirn, weil uns ein mächtiger Windstoß erwischt. »Herr des Himmels, kommen wir überhaupt vorwärts? Ich hab das Gefühl, wir sind auf einem von diesen Großtrainern.«
»Crosstrainer«, lache ich. »Also, komm schon, hat dir die Wohnung gefallen oder nicht?«
»Ich weiß nicht recht. Sie kam mir schrecklich klein vor, und dann ist auch noch ein komischer Mann in die Wohnung gleich daneben gegangen. Hat mir überhaupt nicht gefallen, der Typ.«
»Mir kam er ganz nett vor.«
»Ach natürlich, das hab ich nicht anders erwartet.« Er verdreht die Augen und schüttelt den Kopf. »Dir kommt zurzeit doch jeder Mann nett vor.«
»Dad!«, lache ich.
»Hallo, Graham. Scheußlicher Tag heute, was?«,
Weitere Kostenlose Bücher