Ich habe abgeschworen
der Schiiten, wie sie im Iran leben, von der Mehrheit der Muslime, den Sunniten. Nach Mohammeds Tod im Jahr 632 brach Streit um seine Nachfolge aus. In Mekka wurde Abu Bakr, ein Gefährte Mohammeds, zum ersten Kalifen gewählt, doch Ali, ein Vetter Mohammeds und Ehemann seiner Tochter Fatima, eroberte 656 die Macht. Er wurde 661 ermordet, das Kalifat fiel an die Dynastie der Omaijaden, die in Damaskus lebten. Alis Sohn Al-Hussein ibn Ali verweigerte die Gefolgschaft und wurde mit seinem Bruder Abbas und ihren Gefolgsleuten bei Kerbala in eine Falle gelockt. Laut Überlieferung kämpften sie zehn Tage erbittert gegen ihre Feinde, bis sie niedergemetzelt wurden. An diesen Kampf und den Opfertod Husseins, des ersten Schiiten, wird im Iran alljährlich gedacht. Feierlicher Abschluss der Festtage sind häufig Umzüge, bei denen sich viele Männer auf Brust und Rücken geißeln.
Wir Mädchen hatten in diesen Tagen mehr Freiheit und konnten noch abends ohne Begleitung auf die Straße, wir konnten bis Mitternacht unterwegs sein mit unseren Freundinnen. Mädchen ab dem 12. Lebensjahr natürlich im Tschador – aber wir konnten sogar mit Jungen auf der Straße sprechen. Die religiöse Seite des Festes war mir immer ein bisschen fremd. Ich erinnere mich, ich war neun Jahre alt, da ging ich mit in die Moschee, und ein Mullah erzählte die Geschichte von Hussein und seinem Tod. Alle weinten, die Männer haben sich gegeißelt – und ich verstand nicht, warum das alles so traurig sein sollte. Ich war die ganze Zeit mit dem Versuch beschäftigt, ein paar Tränen aus meinen Augen zu pressen, da alle zu weinen schienen, aber es ist mir nicht gelungen. Einmal erklärte der Mullah, dass man, wenn man in Nadjaf stirbt, der Stadt, in der Hussein begraben ist, sofort ins Paradies kommt. Also dachte ich mir: Gut, ich werde mein Leben leben, und wenn ich merke, dass mein Tod bevorsteht, gehe ich schnell nach Nadjaf, um zu sterben. Ich wollte nicht in die Hölle. Denn die Vorstellung von der Hölle war entsetzlich. Der Koran gibt selbst eine Furcht einflößende Beschreibung der Hölle. Satan ist ein gefallener Engel, der sich weigerte, vor Adam niederzuknien, da dieser doch nur aus Lehm sei. Satan gab Allah Widerworte. Deshalb schickte Allah ihn aus dem Paradies in die Hölle. Und nun versucht Satan, die Nachkommen Adams vom rechten Weg abzubringen. Es gibt für die Menschen keinen Ausweg: Wer an Gottes Geboten auch nur zweifelt, begibt sich schon in die Arme Satans und des ewigen Höllenfeuers. Ich las als Jugendliche nach, in einer Koranausgabe mit klein gedruckter persischer Übersetzung unter dem arabischen Text: Ich fand die Sure 11,107-108: »Die Unglücklichen werden in das Höllenfeuer kommen, und dort wehklagen und seufzen und ewig darin bleiben, solange die Himmel und die Erde dauern, oder dein Herr müsste es anders wollen; denn dein Herr tut, was er will.« Auch andere Stellen besagen, dass der Tod in der Hölle von allen Seiten käme, aber nie eintreffe, es war einfach ein Ort unvorstellbarer Verdammnis.
Die Furcht vor der Hölle bestimmt das Leben eines Muslims. Und je mehr der politische Islam erstarkt, desto mehr trichtert er den Menschen diese Furcht ein. Der Hölle kann nur entkommen, wer unhinterfragt und bedingungslos Gottes Geboten folgt und damit seinen Mullahs auf Erden – egal ob im Iran, im Sudan oder in deutschen Moscheen. Das ist das Wesen des politischen Islam, und das macht ihn so mächtig. Man kann es auch einfach eine radikale Gehirnwäsche nennen, der Kinder von Anfang an unterzogen werden, wenn wir ihnen nicht die Chance geben, außerhalb dieser Welt des blinden Gehorsams die Kraft der Freiheit und der Wahlmöglichkeiten und den Wert der Menschenrechte kennenzulernen.
Im Ramadan haben wir gefastet und sind um vier Uhr morgens aufgestanden. Dann wurde gegessen und tagsüber gefastet und abends wieder sehr reichlich gegessen.
Abends wurde von den Frauen noch das Essen für den nächsten Tag vorbereitet. Im Ramadan waren die Speisen sehr vielfältig, tagsüber musste man zwar enthaltsam sein, aber jede Nacht gab es zweimal einen Festschmaus. Dieser Fastenmonat ist keine Zeit der Besinnung, sondern es geht wiederum um Folgsamkeit. Dank der üppigen Mahlzeiten und vor allem des Verbots der Flüssigkeitszufuhr auch an heißen Tagen ist das Ramadan-Fasten zudem alles andere als gesund. Da ich als Kind sehr kränklich war, musste ich das Fasten nie ganz streng einhalten, sondern durfte mittags etwas trinken und
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