Ich habe Jakobs Arsch geküsst: Von Pilgern und Bettwanzen: 800 Kilometer unterwegs auf dem Jakobsweg
schildert. Ob sie ihr Leben so weiterleben möchte, will sie auf dem Camino rausfinden. Aus „spirituellen“ Gründen sei sie hier, erklärt mir die sonst eigentlich nette, blondierte Niederländerin. Aha. Was genau sie damit meint, kann ich nicht ergründen, hört sich aber bedeutend an, finde ich. Den Spruch merke ich mir.
Wir verabreden uns, am nächsten Morgen gemeinsam loszugehen, und wollen uns kurz nach sieben Uhr in der Gasse zwischen unseren Herbergen treffen. Sie übernachtet in der örtlichen holländischen Pilgerstation. Ob sie dort auch schikaniert wird? Im dunklen Flur meiner Herberge züngelt bei meiner Rückkehr noch einmal der Waran auf Kontrollgang an mir vorbei, aber außer der gezischten Aufforderung, das Licht auszulassen, gibt es keine weiteren Komplikationen. Die Nacht vor dem Pilgerstart verläuft akzeptabel. Wereinatmet muss auch ausatmen und wer einschläft muss auch ausschlafen.
Mein Herbergswaran wirkt beim französischen Frühstück aus Toastbrot und Tee ein Stück weit entspannter und auch die beiden Engländer schauen an der großen Tafel weniger eingeschüchtert in den Tag. Sie haben heute morgen wohl noch keinen Rüffel bekommen und sich brav im Dunkeln angezogen. Mein erster Anschiss des Tages lässt aber nicht lang auf sich warten: Das mit dem Tee statt Kaffee hätte ich gefälligst am Vorabend anmelden müssen - normalerweise gibt es nur Kaffee, belehrt die Giftspritze mich. „Schon gut, es wird nicht wieder vorkommen, weil ich hier nicht wieder übernachten werde“, gebe ich auf Englisch zurück. Die anderen Gäste, außer der Wirtin und einem spanischen Pärchen, verstehen meine Replik und feixen. Ich wünsche allen Beteiligten einen fröhlichen Wandertag und mache mich auf Socken nach draußen. Die Schuhe darf ich nämlich erst vor dem Haus in der Dämmerung anziehen.
Ausführlich hatte Linda mir am Vorabend von ihrem umfangreichen Trainingsprogramm zu Hause in den holländischen Dünen erzählt - und mich warnend auf ihr üblicherweise strammes Marschtempo hingewiesen. Bitteschön, ich will hier niemanden auf dem Weg zu sich selbst aufhalten. Ich habe bei ihren Berichten schon Sorge, meine rein läuferische Vorbereitung auf all das hier würde zur Lachnummer für echte Pilger. Da ich, wieschon erwähnt, nicht gern gehe, bin ich halt zur körperlichen Ertüchtigung ein paar Monate lang gelaufen und habe es bis zum Koblenzer Halbmarathon in gut zwei Stunden Laufzeit gebracht. Das sollte reichen, dachte ich eigentlich.
Durch das alte Pilgertor verlassen wir die Altstadt von St. Jean und augenblicklich geht es stramm bergan. Das Dörfchen liegt noch im Schlaf. Nur eine auf früh startende Pilger eingerichtete Bäckerei und ein paar Straßenlaternen erhellen die ersten Meter. Danach wandern wir durchs Halbdunkel auf einer schmalen Teerstraße den ersten Berg hinauf.
St. Jean ist eines der Pyrenäendörfchen, die es gewissermaßen geschafft haben. In harter Konkurrenz zu den Nachbargemeinden herrschte hier seit dem Mittelalter ein Wettstreit um die besten Wunder und Heiligtümer. Wie im benachbarten Lourdes wurde Jahrhunderte lang auf Teufel komm raus um die christlichen Touristen der Zeit gebuhlt. Das Ziel war klar: wirtschaftlicher Vorteil und politische Macht. Viele Pilger bedeuten bis heute viel Geld in der Kasse und zudem bis vor wenigen Jahrzehnten noch Macht und Einfluss für die zuständigen Kirchenvertreter.
Die Dörfer und Städte, die das Glück haben, vom Weg des Jakobus durchzogen zu werden, unterscheiden sich bis heute eklatant von denen, die nur einen Kilometer weit rechts oder links vom Camino dem Verfall preisgegeben sind. So wieLourdes vor 120 Jahren das große Los zog, als die natürlich bewiesenen Marienerscheinungen und das wundervolle Quellwasser von der katholischen Kirche anerkannt wurden, so genießen die Bewohner von St. Jean Pied de Port bis zum heutigen Tage ihren Status, erfolgreich ins Wallfahrergeschäft eingestiegen zu sein. Die Ware Jakob macht sich täglich bezahlt. In Lourdes hoffen jedes Jahr zehntausende kranker Menschen auf ein wie auch immer geartetes Mirakel, das überraschenderweise in aller Regel nicht eintritt. Auf was hoffen wohl meine Mitpilger in den kommenden Wochen, während sie sich gen Santiago schleppen?
Ein letzter Blick zurück ins nebelverhangene Tal mit den letzten Häusern des Dorfes - schon mehr als 600 Höhenmeter liegen hinter mir. Die Schuhe passen, die Frisur sitzt ebenso wie der Rucksack an der richtigen Stelle.
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