Ich habe Jakobs Arsch geküsst: Von Pilgern und Bettwanzen: 800 Kilometer unterwegs auf dem Jakobsweg
Als die dünentrainierte Linda dann nach gerade einmal acht Kilometern und kaum mehr als einem Dutzend Zigarettenpausen in Orrison aufgibt, bin ich gerade mal warmgelaufen. Sie will im Zelt übernachten und schnauft wie eine Dampflok zwischen Kaffeeschluck und Zigarettenzug. Es ist kaum halb zehn Uhr morgens und der Pesthauch des frühen Pilger-Endes weht schon mit den Nebelschwaden durchs Tal. Die Höhe des ersten Pyrenäenhügels hat die Höhe aller holländischen Dünen zusammen offensichtlich bereits deutlich überstiegen. Ichschwitze bis dato kaum und bin ein bisschen beruhigter, was die Fitness angeht. Vielleicht kann ich es ja doch schaffen, so ganz ohne Zigaretten und Dünentraining.
Wir verabschieden uns und ein bisschen ungläubig schaue ich mich noch ein paar Mal um, bis die Herberge schließlich hinter einer Wegbiegung unter mir verschwindet. Einige Tage später werde ich Linda noch einmal unterwegs auf dem Weg treffen - bei einer Zigarettenpause. Die Pyrenäen hatte sie also doch noch geschafft. Ihre Nacht im Zweipilgerzelt auf 800 Metern Meereshöhe war geprägt von Kälte und Sturm und einem schnarchenden Mitbewohner. Danach sind wir uns nie wieder über den Weg gelaufen. Pilgeralltag.
Der innere Drang vieler Pilger, auf dem Jakobsweg einem fremden Zuhörer binnen kürzester Kontaktzeit sein Leben und seine intimsten Probleme zu schildern, wird mich in den kommenden Wochen immer wieder überraschen. Manchmal auch ein bisschen erschrecken. Was treibt die Leute an, so schnell so viel von sich preiszugeben? Muss ich als völlig fremder Mitpilger wirklich schon nach einer Minute und dreißig Sekunden erfahren, dass jemand zuhause unter Erziehungsproblemen, hasserfüllten Ehepartnern, Rassismus oder Schweißfüßen leiden? Ist das die Erwartung an den wundersamen Ruf des Camino, eine spirituelle Erfahrung zu sein - oder istes bereits der frühe Beginn der kollektiven Selbsttherapie? Ist der Jakobsweg eine sich selbst erfüllende Prophezeiung mit Anleihen bei der klassischen Massenpsychose? Man muss nicht zwingend einen Hau haben, um hier tiefschürfende Gespräche führen zu können, aber es hilft ungemein. Es gibt nicht wenige Pilger, denen es offensichtlich zuhause nicht gut geht. Und das möchten sie gern teilen und mitteilen. Geht es ihnen hier besser?
Dabei könnten die lieben Mitwanderer ruhig ein bisschen selbstbewusster sein, finde ich. Hat doch jeder schon Einiges geleistet, wenn er hier loslegen kann. Es gibt im Vorfeld des Camino eine ganze Menge Hindernisse aus dem Weg zu schaffen, wenn man den Schritt zum Jakobspilger wirklich machen will, und nicht nur jahrelang davon redet und träumt. Erstmal muss man sich die Zeit freischaufeln: Wer den ganzen Französischen Weg von St. Jean nach Santiago gehen will, muss deutlich mehr als einen Monat Zeit haben. Normalsportliche Menschen, die ein paar Tage Reserve und Sightseeing in den großen Städten einplanen, dürfen getrost 40 Tage einkalkulieren. Also heißt es, Urlaub zu sammeln, Familie, Arbeitgeber und Freunde zu überzeugen und zudem die Zeit für sportliches Training zu nutzen. Die Frage nach dem Warum für diese Marathontour darf man sich dabei ebenso gefallen lassen wie den Verdacht lieber Mitmenschen, mit dem geneigtenPilger werde schon irgendetwas nicht stimmen. Zu viele Sünden, zu wenig zu tun - die Gerüchteküche, kombiniert mit ein bisschen Neid, brodelt schnell, wie viele Pilger erzählen. Den Satz: „Das würde ich auch gern machen!“, habe ich in den Monaten der Planung und Vorbereitung oft gehört. Genauso oft wie „Das geht nicht, ich habe keine Zeit“ oder auch „Das schaffe ich nicht.“
Zugegeben: Wer als gänzlich untrainierter Jungpilger an den Start geht, wird nicht selten eine ganze Menge Probleme mehr mit sich herumschleppen, als ihm und ihr lieb ist. Körperliche Belastung, tägliche Gelenkschmerzen, Muskelkater, Blasen und eine gewisse Erschöpfung wird auch der durchtrainierte Pilger auf den kommenden Wochen durchleben. Das habe ich vor drei Jahren als Kurzpilger auf den letzten 130 Kilometern durch Galicien schon einmal mitgemacht. Ich weiß vom Prinzip her, was mich erwartet. Trotzdem ist natürlich nur wenig wirklich planbar. Mangelnde körperliche Vorbereitung dürfte aber einer der Hauptgründe für ein vorzeitiges und trauriges Ende des Jakobsweges sein. Unwägbarkeiten wie entzündete Sehnen und Gelenke, Wundinfektionen, Allergien, Umknicken, Stürze, ernste Rückenprobleme oder auch einfach nur eine
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