Ich habe Jakobs Arsch geküsst: Von Pilgern und Bettwanzen: 800 Kilometer unterwegs auf dem Jakobsweg
Kammer unter dem Dach hat ein Bett und einen Stuhl, kostet inklusive des verwaschenen Charmes 20 Euro und das Gemeinschaftsbad ist erstens im Freien auf einem Balkon und zweitens eine Etage tiefer. Das gäbe es im örtlichen Gefängnis wahrscheinlich auch kostenlos. Beim liebevollen Abarbeiten der Hausordnung raunzt der Waran im Vorbeigehen zwei britische Pilger im Großvateralter an, weil sie in ihrem Zimmer das Licht anhaben. Immerhin habe das Doppelzimmer doch ein Fenster, wie sie informiert - und knipst die Sparbirne konsequent aus. Die älteren Herren schauen sie und mich fragend an und runzeln die Stirn bis hinter die Ohren ob dieses garstigen Auftritts. "Gastgeber" ist eigentlich ein schönes Wort. Es bedeutet, dass man Gastlichkeit und Wärme, Wohlgefühl und Gemütlichkeit darbietet. Romantische Phantasien. Man kann die kauzige Kneifzange mit ihrem resoluten Auftreten einfach nicht unbeachtet lassen. Es wäre leichter, Blut im Stuhl zu ignorieren.
Im Treppenhaus vor meiner Tür richten sich nach meinem Einzug zu meiner Überraschung vier Pilger kurz darauf ihr Nachtlager in Feldbetten, diewie aus dem Nichts einem Wandschrank entspringen. Ich werde mich mit meinem nächtlichen Harndrang absprechen müssen. Er oder ich. Einhalten oder die anderen Leute beim Schlafen mit Lichtanknipsen stören. Im Finsteren die senkrechte, schmale Treppe hinabzuklettern, könnte nämlich das jähe und überraschend frühe Aus der Pilgerschaft bedeuten. Ich frage mich, ob die Herbergsmutter für all diese Betten und Lager, die im Haus aus dunklen Nischen auftauchen auch brav Steuern bezahlt. Quittungen kriegt hier für seine Barzahlungen ja keiner. Falls ein französischer Finanzbeamter das hier einmal lesen sollte - ich habe noch die volle Adresse…
Das Licht in der Freiluftdusche läuft wenige Minuten später mit einer rasselnden Zeitschaltuhr gnadenlos ab. Wettduschen mit der Technik ist angesagt. Wer zu langsam ist, steht nach rund drei Minuten nass im Dunkeln und müsste dann nackt den Vorraum durchqueren, um die Uhr wieder aufzudrehen. Immerhin bleibt das Wasser konstant lauwarm und wird im Finstern nicht schlagartig eiskalt. Da könnte das Konzept noch ein wenig konsequenter umgesetzt werden, finde ich.
Das gleiche Stromsparprinzip, das jeden deutschen Öko-Taliban in den Schatten stellt, gilt ebenso für das Zähneputzen wie für den Toilettengang. Wer schnell kann, ist klar im Vorteil. Die Energiewende lässt grüßen. Wenn das die Qualität der Übernachtungen in den kommendenWochen darstellen sollte: Prost Mahlzeit.
Erstmal ziehe ich los und kaufe mir in einem der zahllosen Pilgershops einen schönen hölzernen Wanderstock mit Aluminiumspitze und ein Taschenmesser. Ich bin ja nur im Billigstflieger mit Bordgepäck hergekommen und konnte keine Bewaffnung mitnehmen. Böse Hunde, böse Pilger, grantige Nachtlagerverwalterinnen und hunderte Kilometer auf einem mittelalterlichen Weg - seit 1000 Jahren werden hier ja bekanntlich Pilger um die Ecke gebracht, hat mir ein Nachbar zuhause erzählt. Zumindest zum Wurstschneiden möchte ich mein Messerchen schon dabeihaben. Es gibt in den Ramsch- und Outdoorläden alles, was das Herz begehrt. Ich entscheide mich für preiswerte und funktionale Technik: Ein polierter und lackierter Knüppel aus Hartholz soll mein Wegbegleiter für die nächsten Wochen werden. Das Messer ist zwar aus Blech, lässt sich aber zusammenklappen und liegt gut in der Hand.
Das Abendessen entwickelt sich dann mit der vor dem Pilgerbüro aufgegabelten Holländerin Linda erfreulich kurzweilig. Hauptsache, sie will nicht über Fußball reden. Immerhin macht man sich ja schon so seine Gedanken, ob man als einsamer Einzelpilger nach ein paar kontaktarmen Wochen womöglich die Sprache verloren haben könnte, oder mit ein paar nervösen Ticks zurückkommt.
Vielleicht weint man sich vor Heimweh jeden Abend leise in den Schlaf? Oder zumindest wegengrässlich schmerzender Füße?
Es gibt zum ersten Mal ein Pilgermenü - und wir sitzen auf der Terrasse des Restaurants. Nach dem zweiten verregneten deutschen Sommer in Folge ist das Speisen von drei Gängen nebst Wein für zehn Euro in lauer Sommerabendtemperatur ein kleiner Genuss. Linda ist Mitte 50 und leitet ein Therapiezentrum für Kinder mit psychischen Problemen. Sie ist geschieden, von den zunehmenden finanziellen Einschränkungen in ihrem Job frustriert und raucht Kette. Sie fürchtet, kurz vor einem „Burnout“ zu sein, wie sie mir freimütig
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