Ich hasse dich - verlass mich nicht
entwickelt eine Konstanz sich selbst und anderen gegenüber. Es entwickelt sich ein Vertrauen zu anderen und zu den eigenen Wahrnehmungen. Die Welt wird ausgewogener und nicht mehr so extrem wahrgenommen.
Wie beim Bergsteigen kommt die schönste Erfahrung, wenn der Kletternde alle Aussichten richtig genießen kann: Er sieht nach oben und hat sein Ziel klar vor Augen, er blickt nach unten und sieht, welchen Fortschritt er beim Klettern macht. Und schließlich ruht er sich aus, blickt sich um und bewundert die Aussicht vom aktuellen Punkt aus. Teil der Erfahrung ist die Erkenntnis, dass niemand den Gipfel je erreicht.
Das Leben ist ein ständiger Aufstieg. Für die Psyche ist es sehr wichtig, dass man die Reise genießen kann – dass man die Realität des Ruhegebets akzeptiert, das bei den meisten Zwölf-Schritte-Programmen zitiert wird: »Gott, gewähre mir die Gelassenheit, die Dinge anzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, den Unterschied zu erkennen.«
Erkennen, welche Auswirkung Veränderungen auf andere haben
Wenn jemand zum ersten Mal zur Therapie kommt, versteht er oft nicht, dass er es ist, der sich ändern muss, und nicht die anderen. Wenn er sich jedoch ändert, müssen sich die Menschen, die für sein Leben wichtig sind, ebenfalls ändern. Stabile Beziehungen sind dynamische, sich ständig verändernde Systeme, die einen Gleichgewichtszustand erreicht haben. Wenn ein Mensch in diesem System in seiner Beziehung zu anderen große Veränderungen vornimmt, müssen sich die anderen anpassen, damit der Zustand des Gleichgewichts wiederhergestellt wird. Wenn diese Anpassungen nicht erfolgen, können das System und die Beziehungen zusammenbrechen.
Alicia konsultiert beispielsweise wegen schwerer Depressionen und Angstzustände einen Psychotherapeuten. Während der Therapie wettert sie gegen ihren alkoholkranken Mann Adam, dem sie die Schuld an ihrem Gefühl gibt, wertlos zu sein. Schließlich erkennt sie die eigene Rolle, die sie in dieser zerbröckelnden Ehe spielt – das eigene Bedürfnis, dass andere von ihr abhängig werden, ihr wechselwirkendes Bedürfnis, andere zu beschämen, und die Angst, nach der Unabhängigkeit zu greifen. Plötzlich gibt sie ihrem Mann nicht mehr die Schuld. Sie entwickelt neue, unabhängige Interessen und Beziehungen. Sie stellt ihre Weinepisoden ein, gibt es auf, jedes Mal einen Streit anzufangen, wenn er trinkt. Das Gleichgewicht der Ehe hat sich verändert.
Adam empfindet diese Situation vielleicht als viel unbequemer als vorher. Er könnte seinen Alkoholkonsum in dem unbewussten Versuch steigern, das alte Gleichgewicht wiederherzustellen und Alicia dazu zu bewegen, wieder die sorgende Märtyrerrolle zu übernehmen. Vielleicht beschuldigt er sie, sich mit anderen Männern zu treffen, und versucht die Beziehung, die für ihn jetzt unerträglich geworden ist, zu zerstören.
Vielleicht sieht er aber auch die Notwendigkeit einer Veränderung und seine eigene Verantwortung, dass dieses pathologische Gleichgewicht aufrechterhalten wurde. Er kann die Gelegenheit ergreifen, seine eigenen Handlungen klarer zu beurteilen und sein eigenes Leben neu zu bewerten, genau wie er es bei seiner Frau beobachtet hat.
Die Teilnahme an einer Therapie kann für alle Betroffenen eine wertvolle Erfahrung sein. Je interessanter und wissender Elisabeth wurde, desto ignoranter erschien ihr ihr Mann. Je offener sie wurde – je mehr Grau sie in einer Situation wahrnehmen konnte –, desto stärker sah er die Situation schwarzweiß, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Sie hatte das Gefühl, dass sie »jemanden zurückließ«. Diese Person war sie – oder besser gesagt der Teil von ihr, den sie nicht mehr brauchte oder wollte. Sie selbst bezeichnete es als »Erwachsenwerden«.
Als Elisabeths Behandlung sich dem Ende zuneigte, suchte sie ihren Arzt nicht mehr so regelmäßig auf, musste sich aber immer noch mit anderen wichtigen Menschen in ihrem Leben auseinandersetzen. Sie kämpfte mit ihrem Bruder, der sich weigerte zuzugeben, dass er ein Problem mit Drogen hatte. Er beschuldigte sie, »hochnäsig« zu sein und »den neuen Psycho-Quatsch als Waffe zu benutzen«. Sie stritten erbittert über die fehlende Kommunikation innerhalb der Familie. Er erklärte ihr, dass sie trotz all der Therapien immer noch »verrückt« sei. Sie kämpfte mit ihrer Mutter, die weiter forderte, sich beklagte und unfähig war, ihr Liebe zu zeigen. Sie
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