Ich kann nicht, wenn die Katze zuschaut
Rohbauwände, Fußbodenheizungsschlangen, Gasbetonsteine, Fensterstürze, Fliesenspiegel, Ab- und Anschlüsse nebst Zargen, Zacken und Zinken. «Hier ist die Abstellkammer und da das Gästeklo. Man kann schon richtig was erkennen», juchzte die Dinkelkeksin, und in diesem Moment wusste ich, woran mich die Bilder erinnerten. An Ultraschallfotos, an Babys. «Pack das weg. So was will ich gar nicht sehen», sagte ich schroff.
Etwas pikiert sammelte Mutter Dinkelkeks die Fotos vom Tisch. Aber wahrscheinlich hatte ich schon zu lange draufgeguckt. Denn als ich danach durchs Fenster sah, hatte sich die verknöterichte Brache neben unserem Mietshaus schon fast in so was wie Bauland verwandelt. «Mann, die Bauzinsen sind absolut im Keller, und neben uns ist noch ein Reihenhausgrundstück frei», lockte VaterDinkelkeks leutselig. «Ich möchte nie in einem Haus wohnen, das ich mir leisten kann», formulierte ich beherrscht, und Vater Dinkelkeks schrie vor Schmerz auf, aber nur, weil meine Frau gegen das falsche Schienbein getreten hatte.
Es ist das alte Lied. Kaum dass die Kinder einmal durchgeschlafen haben, werden die Menschen reineweg toll. Häuser werden ja nicht gebaut, weil man endlich vier Zimmer auf drei Etagen haben muss, um die Hälfte vom Rest seines Lebens auf einer Kiefernholzwendeltreppe zu verbringen, oder wegen der Kinder, weil die unbedingt zwischen Grillecke und Thujenhecke zehn Quadratmeter Rasen «zum Herumtoben» brauchen. Das ist völlig zweitrangig. Nein, das Häuserbauen entspringt dem Midlife-kriselnden Drang, noch einmal etwas ganz Verrücktes zu tun. Da eine Weltumsegelung oder das Besteigen des Nanga Parbat über die Ostseite in einem Sturmtief beim Stand der heutigen Technik zu Recht als lasch und zu reizarm gelten, sind 30 Jahre Kreditstemmen ohne Urlaub und Baufehler vom aufwellenden Qietsch-Parkett bis zum handbreiten Setzungsriss an der Schlafzimmerwand genau die Unwägbarkeiten, die einen modernen Menschen noch an die Grenze seiner Belastbarkeit zu bringen vermögen.
«Warum bauen wir eigentlich nicht?», fragte meine Frau am Abend, während sie sich auf berückende Weise am Rücken aufhakte. «Wer baut, der haut», sagte ich zu meiner Frau, «und zwar seine Frau! Zwei Drittel aller Paare trennen sich doch, noch ehe der Putz trocken ist.» «Du meinst, unsere Liebe ist nicht mal stark genug für ein kleines Haus, ganz ohne Gauben und nur mit Bodenplatte?», zwitscherte die Schöne, während sie sich aufgehakt zu mir drehte. «Ich sprech mit der Bank», keuchte ich hastig.
Auf kleinem Fuß
«Neununddreißig.» Ich hatte die Zahl so leise wie möglich gesprochen, kaum die Lippen bewegt und den Kopf schräg zum Verkäufer gesenkt, um dem Beratungsgespräch die nötige Intimität zu verleihen. Aber umsonst. Die Kassiererin warf mir über ihre Lesebrille sofort einen kühl registrierenden Blick zu, der Surflehrertyp mit dem Paar Westernstiefel schaute, auf seinem Kaugummi nunmehr betont langsamer kauend, herüber, und sogar der schlaksige Gymnasiast vor dem Sneakersregal löste interessiert den Kopfhörerstöpsel aus seinem Ohr. «Diese Größe führen wir nicht», sagte der Verkäufer mit einem an Herablassung nicht mehr zu überbietenden Bedauern und setzte sich mit einem knapp angefügten «Das ist hier ein Herrenschuhgeschäft!» auf meine private Todesliste.
«Neununddreißigeinhalb?», versuchte ich mich noch etwas kläglich in die Welt der Herrenschuhe zurückzufragen, aber der Verkäufer schüttelte nur den Kopf. Ich machte auf meinem kleinen Absatz kehrt und ging hinaus. Draußen auf der Straße kamen mir Frauen, Farbige und Haustiere entgegen. Sie alle genossen freudig und ausgelassen den Schutz des Grundgesetzes. Niemand darf sie benachteiligen. Mich schon. Die Diskriminierung kleiner Männer gehört zu den letzten Tabus des Abendlandes. Alle behandeln einen, als wäre man irgendwas Kleines, das einem Mann bloß täuschend ähnlich sieht. Und wenn man dann herausragende männliche Leistungen in Kunst, Wissenschaft oder Sexualität erbringt, heißt es immer gleich: Lasst denmal. Der kompensiert nur seine Minderwüchsigkeit. Es ist ein Elend. Alle schauen weg, wenn man es im schlingernden Bus mit der Hand nicht nach oben an die Haltestange schafft und mitsamt Aktentasche in die Sitzreihe klappt. Bundweite 32 mit Beinlänge 29 scheint auf Betreiben des Weltverbandes der Änderungsschneider in der Jeansfabrikation auf dem Index zu stehen.
Und das sind nur die kleinen Beispiele.
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