Ich kenne dein Geheimnis
Anklagepunkte gegen Principini zu erläutern. Am folgenden Tag hatte die Presse seine vorsichtigen
Worte zu Sensationen aufgebauscht. Es gab Stimmen, die sogar behaupteten, Principini sei auch am Tod seiner Frau Anna Bechi
mit schuld gewesen, habe möglicherweise gar ihre Ermordung veranlasst. Außerdem hatte die Presse eine Verbindung zwischen
dem Organhandel und den Ermittlungen im Fall der toten Frau im Zug und ihrem ermordeten Komplizen Antonio Livraghi hergestellt.
Ergänzt wurden die Anklagepunkte durch das umfangreiche Dossier von Interpol über verschwundene Minderjährige und durch Berichte
über Livraghis grauenerregende Machenschaften. Der Pädophile war von einer rivalisierenden Mafiagruppe zum Tode verurteilt
worden, vollstreckt wurde das Urteil von Franco Spargi, auch er ein Mitglied der Mafia. Spargi wurde von Amanda Soleri erschossen,
der Besitzerin der Mailänder Boutique Amanda Luxury, für die er als Geschäftsführer gearbeitet hatte. Ihrer Aussage war es
zu verdanken, dass zwischen dem Doppelmord und der Entführung von Smeralda Manganos Kindern eine Verbindung hergestellt werden
konnte. Das Mädchen galt offiziell als verschwunden und war mit großer Wahrscheinlichkeit Opfer der Organhandelmafia geworden.
|464| »Es ist vorbei«, sagte Pacì Barbera erleichtert zu Commissario Giorgini, während sie die Pressekonferenz verließen. Er ging
voraus, um seine Chefin vor den Fotografen zu schützen. Einen besonders aufdringlichen Journalisten, der Silvia das Mikro
unter die Nase hielt, schob er mit einer entschiedenen Armbewegung zur Seite. »Es reicht«, sagte er und begleitete die Kommissarin
zum Auto.
Sie wartete, bis er ihr die Tür geöffnet hatte, und stieg wortlos ein. Sie hätte ihm gerne gedankt, aber sie war zu erschöpft,
um auch nur ein einziges Wort zu sagen.
Barbera hatte recht: Es war vorbei. Und doch spürte sie keine Erleichterung.
Auf der Fahrt ins Büro musste sie wieder an das Foto des kleinen Mädchens denken, das sie die ganze Zeit über begleitet hatte,
und sie spürte, wie eine große Traurigkeit in ihr aufstieg. Jetzt gab es keinen Grund mehr, ihren imaginären Dialog mit der
Kleinen fortzusetzen. Das Mädchen war tot. Oder vielleicht sollte man besser sagen, fast tot, denn ein Teil von ihr, das Herz,
eine Niere oder die Leber lebte im Körper eines anderen Kindes weiter. Silvia erschauderte. Smeralda Mangano musste Schreckliches
durchmachen, sie fühlte mit ihr. Sie hatte jetzt Respekt und Ruhe verdient.
Genau so hatte sich Chiara das Wiedersehen mit Paolo vorgestellt. Sie kam sich vor wie ein Teenager: Herzklopfen, Atemnot,
weiche Knie und die unbändige Lust, ihn zu umarmen und leidenschaftlich zu küssen. »Wenn ich nach einer langen Reise immer
so empfangen werde, fahre ich öfter weg«, hatte Paolo scherzhaft gesagt und sie fest in die Arme geschlossen.
»Versuch es erst gar nicht.« Chiara hatte ihn ins Schlafzimmer gezogen und sein Hemd aufgeknöpft. Sie genoss die warme Haut
unter ihren Fingern und sog tief seinen leicht |465| herben Duft ein, in dem noch ein Hauch Aftershave lag. Dann liebten sie sich mit einer bisher ungekannten Intensität und waren
schließlich schweißgebadet und erschöpft in inniger Umarmung eingeschlafen.
Im Morgengrauen jedoch hatte Chiara zu träumen begonnen.
Das Haus war in einem elenden Zustand. Die Eingangstür hing windschief in den verrosteten Angeln, die Holzdielen waren morsch
und löchrig. Die Wände waren feucht und verdreckt und boten allein den Spinnen eine Heimat, die sich in den Ecken dichte Netze
gewoben hatten. Alles in dieser Ruine war kaputt. Nur die Kupfertöpfe, die über dem Kamin hingen, waren noch intakt. Wenn
die Sonne schien, glänzten sie, als ob sie gerade frisch poliert worden wären. Auf der Arbeitsplatte der rauchgeschwärzten
Küche lagen noch Messer mit stumpfen Klingen und schwarze Grillroste. Die Fensterscheiben waren kaputt, der Wind heulte durch
die Löcher, nur ein einziges Fenster war noch ganz. Durch dieses Fenster schaute man auf die Felder. Als Kinder hatten sie
dieses Fenster »die Guillotine« genannt . Einmal hatten sie versucht, das Fenster nach oben zu drücken, aber es war viel zu schwer für ihre kleinen Arme gewesen. Plötzlich
war die Kette, die es in der Halterung hielt, gerissen . Das Fenster war wie ein Fallbeil herabgeschossen, und sie hatten sich vorgestellt, dass der Geist damit die Köpfe der kleinen
Kinder
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