Ich kenne dein Geheimnis
abtrennte, die seine Ruhe störten. Die schwarzen Flecke auf dem Fensterbrett stammten von geronnenem Blut, das sich
nicht mehr entfernen ließ. Diesen Teil des Hauses hatten sie die »Metzelei« getauft . Es gab auch noch den »Schlachthof« im Keller. Sie hatten diesen Raum eines Tages durch Zufall entdeckt, als sie auf eine
morsche Diele getreten waren. Das Holz war gesplittert, und vor ihnen klaffte ein Loch. Nacheinander hatten sie nach unten
geblickt
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und eine Eisenrolle entdeckt, die früher von den Bauern benutzt worden war, um kopfüber Schlachtschweine daran aufzuhängen.
Die Großeltern hatten erzählt, dass den armen Geschöpfen bei lebendigem Leib die Halsschlagader geöffnet wurde, um das warme
Blut aufzufangen. Die schaurigen Schreie der gequälten Tiere hallten von den Wänden wider, als wüssten sie von ihrem Todesurteil,
hatte Nonna Lia einmal gesagt.
Hals über Kopf waren sie geflüchtet. Aber eine von ihnen war in eine Spalte getreten, der Boden war eingebrochen, und sie
war in die Tiefe gestürzt.
Seit diesem Tag waren viele Jahre vergangen, und Chiara war nie wieder in das Haus zurückgekehrt. In ihrem Traum schien der
Ort unverändert. Auch ihre Angst war immer noch die gleiche. Aber jetzt war ihr klar, dass sie nicht mehr weglaufen würde.
Es war heller Tag, und das Licht, das durch die Ritzen drang, beleuchtete den feinen Staubregen, der alles unwirklich erscheinen
ließ. Die quietschenden Bodendielen klangen wie das Wimmern eines Kindes. Sie blieb stehen und sah sich unschlüssig um. Ihr
wurde heiß und kalt. Geh weiter. Finde Luisa. Rette sie! Langsam näherte sie sich dem Loch im Boden, blieb am Rand stehen,
aber um nach unten zu schauen, fehlte ihr der Mut. Ihr Herz schlug zum Zerspringen. Als sie sich wieder beruhigt hatte, kniete
sie sich auf den Boden und zwang sich, nach unten zu blicken. Aus diesem Winkel konnte sie nicht einmal die Flaschenzugrolle
erkennen, nur ein Stück Steinfußboden. Als sie sich weiter nach vorn neigte, bemerkte sie in einer Ecke einen Gegenstand,
der aussah wie ein Bündel Lumpen. Um besser sehen zu können, steckte sie den Kopf durch das Loch. Das Bündel bewegte sich,
und ehe sie erkennen konnte, was es war, schwebte es zu ihr herauf, hielt sich an ihren Haaren fest und zog sie nach unten,
als sei sie schwerelos.
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»Chiara , hilf mir!«
Chiara landete mit dem Rücken auf dem Steinfußboden. Der Aufprall war so heftig, dass sie die Augen schloss und vor Schmerzen
für einige Sekunden keine Luft mehr bekam. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie Luisas dreckverschmiertes Gesicht über
sich, ihre Augen waren schreckgeweitet. »Hilf mir!«, wiederholte sie.
»Luisa!« , rief Chiara und streckte ihr die Arme entgegen. Aber das Mädchen sprang einen Schritt zurück und sah sie wütend an. »Du hast
mich im Stich gelassen. Du bist nicht mehr meine Freundin.«
Chiara versuchte aufzustehen, aber ihr Rücken schmerzte zu sehr, selbst im Traum. Wieder streckte sie die Arme aus und hielt
sie Luisa entgegen. »Nimm meine Hand, ich bringe dich von hier weg. Ich bin gekommen, um dich zu retten.« Das Mädchen bewegte
sich nicht, sondern beobachtete jede ihrer Bewegungen wie eine Katze, die auf Beute lauert. Dann , als Chiara sich endlich aufrichten konnte, sprang Luisa sie an und zerkratzte ihr die Haut.
Chiara versuchte sie abzuwehren, doch Luisas Nägel waren wie kleine Widerhaken, die sich immer tiefer in ihre Haut bohrten.
Chiara weinte und schrie: »Es tut mir leid. Verzeih mir, verzeih mir.«
»Mein Schatz, es ist nur ein Traum.« Paolo schüttelte sie sanft und küsste sie auf die Wange. Chiara öffnete die Augen. Sie
weinte noch immer, aber sie war glücklich, Paolo neben sich zu spüren.
»Hattest du einen Alptraum?«, fragte Paolo.
Chiara nickte und drückte fest seine Hand.
»Wovon hast du geträumt?«
|468| »Ich erinnere mich nicht«, log sie, »ist schon wieder gut. Soll ich Frühstück machen?«
Paolo schaute auf die Uhr. »Schon neun! Dann gehe ich heute wohl etwas später ins Büro.«
Chiara küsste ihn auf den Mund. Wie sehr hatte sie sein Lächeln vermisst! »Geh duschen, du faules Stück!«, sagte sie und schubste
ihn scherzhaft aus dem Bett. Sie war glücklich, dass sie nicht mehr allein war.
Endlich waren die Ermittlungen abgeschlossen, und Smeralda Mangano hatte nach all der Leidenszeit ein klein wenig Frieden
und Glück gefunden. Was ihr eigenes Geheimnis anging,
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