Ich klage an
nicht allein sein. Stundenlang schaute sie fern, egal was gerade lief. Tagelang stand sie nicht auf, aß nichts. Irgendwann sagte sie, daß sie so unglücklich sei, weil sie ihren Glauben vernachlässigt habe. Sie trug wieder ein Kopftuch, versuchte zu beten. Ab und zu gelang es ihr, dann wieder nicht, wodurch sich ihr Schuldgefühl noch verstärkte, da man für jedes ausgelassene Gebet bestraft wird. Außerdem wiederholte sie ständig: »Ich leide sehr, aber niemand versteht mich.« Und sie schämte sich ihres früheren Verhaltens unserer Mutter gegenüber. Die ständigen Streitereien taten ihr nun fürchterlich leid.
Dann hatte sie einen psychotischen Anfall und wurde in ein Krankenhaus eingewiesen. Die Arzneimittel schlugen gut an, auch wenn gewisse Nebenwirkungen wie Ruhelosigkeit, Schmerzen, Muskelstarre und seltsame Reflexe ihr zu schaffen machten. Ich sah, wie meine kleine Schwester, diese schöne, starke Frau, vor meinen Augen verfiel.
Im Juli 1997 kehrte sie nach Kenia zurück. Dort bekam sie keine Arzneimittel mehr; statt dessen wurden Islamgelehrte zusammengetrommelt, die ihre Psychosen beschwören sollten. Sie forderten sie auf, den Koran zu lesen, um ruhiger zu werden. Und sie wurde zu einer Hexenbeschwörerin gebracht, weil unsere Stiefmutter sie angeblich verhext hatte. Meine Schwester sagte zu dieser Frau: »Wenn du wirklich in der Lage wärst, solche weitreichenden Kräfte heraufzubeschwören, solltest du sie besser dazu verwenden, deine faulen Zähne zu heilen.« Trotz ihres Zustandes verfügte sie noch über ihr klares Denkvermögen. Manchmal wurde sie geknebelt oder geschlagen, um sie zu beruhigen, aber das half natürlich nicht. Die Psychosen wurden immer schlimmer. Sie entwickelte einen Verfolgungswahn und aß nicht mehr. Am 8. Januar 1998 ist sie gestorben.
Ihr Tod war der schwerste Augenblick in meinem Leben. Als mein Vater mich anrief, um mir die Nachricht zu übermitteln, bekam ich einen heftigen Weinkrampf, woraufhin er sagte: »Stell dich doch nicht so an! Schließlich gehen wir alle zurück zu Gott!« Ich nahm das erste Flugzeug nach Nairobi, kam aber zu spät zur Beerdigung. Wahrscheinlich ist sie an Erschöpfung gestorben; ich bin mir aber nicht sicher, da keine Autopsie vorgenommen wurde. In unserer Kultur sind Fragen nach der Todesursache ein Tabu. Jedesmal, wenn ich das Thema anschneiden wollte, wurde ich zurechtgewiesen wie ein quengelndes Kind. Man belehrte mich: »Gott gibt das Leben und nimmt es wieder.«
Meine Schwester und ich waren noch klein, als uns auffiel, daß wir unserem Bruder immer Respekt entgegenbringen mußten. Er war nur zehn Monate älter als ich, aber uns wurde bewußt, daß nur Jungs zählen. Eine Muslima genießt um so höheres Ansehen, je mehr Söhne sie hat. Wenn meine Oma gefragt wurde, wie viele Kinder sie habe, sagte sie: »Eins.« Dabei hatte sie neun Töchter und einen Sohn. Das sagte sie auch über unsere Familie - daß wir nur ein Kind hätten. »Und wir?« fragten meine Schwester und ich. »Ihr werdet für uns Söhne bekommen«, erwiderte sie. Das trieb mich zur Ver-zweiftung. Was sollte ich mit meinem Leben auf Erden anfangen? Söhne zur Welt bringen! Eine Söhnefabrik werden. Damals war ich neun Jahre alt.
Um ihre künftige Funktion als Söhnefabrik möglichst gut ausüben zu können, wird allen Mädchen von klein auf beigebracht, sich unterzuordnen. Unter Gott, Vater, Bruder, Familie und Clan. Je besser dies einer Frau gelingt, für desto tugendhafter hält man sie. Sie muß immer geduldig sein, auch wenn ihr Mann die schrecklichsten Dinge von ihr verlangt. Dafür wird sie im Jenseits belohnt. Diese Belohnung ist allerdings ein Witz. Für Frauen gibt es im Paradies Datteln und Trauben, sonst nichts.
Als wir in Saudi-Arabien lebten, nahm unser Vater meinen Bruder überall mit hin. Wir Mädchen mußten zu Hause bleiben. Aber meine Schwester und ich waren neugierige Kinder. Wir wollten auch mit, fanden es ungerecht. Auf dieses Wort reagierte unser Vater sehr empfindlich. Das wußten wir. Wie erwartet, ging er sofort darauf ein. »Allah hat gesagt: Ich habe der Frau einen ehrenvollen Platz gegeben. Ich habe ihr das Paradies unter die Füße gelegt.« Wir schauten die Füße meiner Mutter an, dann die meines Vaters und brachen in Lachen aus. Seine Füße steckten wie immer in teuren italienischen Lederschuhen, die Füße meiner Mutter aber waren nackt, übel zugerichtet, weil sie viel gehen mußte und nur billige Sandalen trug, die Haut war
Weitere Kostenlose Bücher