Ich klage an
eingerissen und hing in Fetzen herab. Mein Vater stimmte in unser Lachen ein, aber meine Mutter regte sich auf, gab uns einen Klaps und schickte uns aus dem Zimmer. Sie hatte große Angst vor Blasphemie.
In Kenia besuchte ich nach der Grundschule die Moslem Girls Secondary School. Dorthin gingen junge Mädchen aus Kenia, aber auch aus dem Jemen, aus Somalia, Pakistan und Indien. Einige von ihnen waren sehr intelligent und in allen
Fächern gleich gut; außerdem waren sie gut in Sport. Jeden Morgen wurden die Namen aufgerufen. Present mußte man dann antworten. Aber ab einem bestimmten Alter waren immer mehr Mädchen absent. Niemand wußte, wo sie geblieben waren. Später erfuhren wir, daß sie zwangsverheiratet worden waren. Einigen von ihnen begegnete ich ein oder zwei Jahre später wieder. Nichts erinnerte mehr an die Mädchen von früher. Sie waren ausnahmslos Söhnefabriken geworden: dick, schwanger oder mit einem Kind auf dem Arm. Die Streitlust, das Leuchten in ihren Augen, das Quecksilbrige in ihnen war nicht mehr da. Bei diesen Mädchen gab es viele Fälle von Depressionen und Selbstmord. Ich hatte Glück, daß mein Vater damals nicht bei uns wohnte. Sonst hätte er mich im Alter von sechzehn Jahren wahrscheinlich auch zwangsverheiratet. In diesem Alter kann man nicht fliehen. Wohin hätte ich auch gehen sollen?
Mitte der achtziger Jahre begann in Kenia die Islamisie-rungswelle. Wie so viele andere Heranwachsende war auch ich auf der Suche. Besonders beeindruckt war ich von unserer Islam-Dozentin. Sie war eine auffallende Persönlichkeit. Sie hatte ein blasses, herzförmiges Gesicht, das in geheimnisvollem Kontrast zu ihrem schwarzen Kopftuch und ihrem langen schwarzen Kleid stand. Leidenschaftlich erzählte sie von der Liebe zu Gott und von unseren Pflichten ihm gegenüber. Damals habe ich zum erstenmal das Bedürfnis empfunden, Märtyrerin zu werden. Das würde mich Gott nahebringen. Hingabe an Allahs Wille, darum ging es. Wie ein Mantra wiederholten wir den folgenden Satz: »Wir unterwerfen uns Gottes Willen.« Spontan legte ich den Schleier um. Von nun an trug ich schwarze Gewänder über meiner Schuluniform. Meine Mutter war glücklich, meine Schwester war weniger begeistert.
Dann hatte ich einen Freund. Das war verboten. Wir küßten uns. Das war ganz und gar verboten. Dabei war er ein sehr religiöser Freund. Streng in der Lehre, was das Verhältnis zwischen Männern und Frauen anging, im täglichen Leben aber hielt er sich nicht an diese Regeln. Damals sind bei mir die ersten starken Zweifel aufgekommen. Weil ich log, weil er log. Je religiöser ich wurde, desto mehr log und betrog ich. Irgend etwas stimmte da nicht.
Später war ich in einem Flüchtlingslager an der Grenze zwischen Somalia und Kenia. Ich sah, wie Frauen, die im Krieg vergewaltigt worden waren, ihrem Schicksal überlassen wurden. Ich fragte mich: Wenn es einen Gott gibt, warum läßt er dies dann zu? Ich durfte das nicht denken, geschweige denn aussprechen, aber mein Glaube bröckelte immer weiter ab. Dennoch bezeichnete ich mich weiterhin als Muslima.
Der 11. September 2001 war ein entscheidender Wendepunkt, aber erst ein halbes Jahr später, nachdem ich Het atheistisch manifest (Das atheistische Manifest) von Herman Philipse gelesen hatte, hatte ich den Mut offen einzugestehen, daß ich nicht mehr glaubte. Marco, in den ich mich während meines Studiums in den Niederlanden verliebte, hatte mir das Buch bereits im Jahre 1998 geschenkt, aber damals wollte ich es nicht lesen. Ich dachte: Ein atheistisches Manifest ist ein satanisches Manifest. Ich empfand Widerwillen. Doch vor einem halben Jahr war ich soweit, daß ich es in die Hand nehmen konnte. Ich war reif dafür. Ich erkannte, daß Gott eine Fiktion ist und daß Hingabe an seinen Willen nichts anderes bedeutet als Hingabe an den Willen des Stärksten.
Ich habe nichts gegen Religion als Trostspenderin. Rituale und Gebete können einem Halt bieten; und ich verlange von niemandem, das aufzugeben. Was ich ablehne, ist Religion als Eichmaß der Moral, als Richtschnur für das Leben. Und vor allem den Islam, weil diese Glaubensrichtung allumfassend ist, weil sie jeden Schritt im Leben des einzelnen beherrscht.
Man hat mir vorgeworfen, ich würde nicht zwischen Religion und Kultur unterscheiden. Frauenbeschneidung habe nichts mit dem Islam zu tun, weil dieses grausame Ritual nicht in allen islamischen Gesellschaften vorkomme. Der Islam verlangt allerdings, daß eine Frau
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