Ich mag dich immer noch, wie du bist - Liebe ist nicht die Antwort, sondern die Frage: Ich mag dich immer noch, wie du bist
flattert.
Ich setze mich aufs Bett neben die Katze, schaue mich um und versuche mir vorzustellen, wie man das Zimmer verschönern könnte. Also, wenn man vielleicht die Wände neu streicht … oder die Möbel verbrennt …
Aber was soll’s, ich bin in San Francisco, sage ich mir. Wen schert es da schon, dass die Wohnung ein mieses Loch ist.
Noch während ich diesen tröstlichen Gedanken formuliere, spüre ich, wie unter mir der Fußboden erzittert. Ein langes Beben, gefolgt von ein paar Trommelschlägen und zwei Pfiffen. Ich lausche dem Ganzen mehrere Sekunden lang, bis es wieder still wird. Dann stehe ich vom Bett auf und gehe ans Fenster, aber ich sehe nichts Auffälliges, nur den Typen, der mir die Wohnung vermietet hat und jetzt in einen quietschbunten Lieferwagen steigt und unter grauen Rauchwolken davonbraust.
Plötzlich bebt der Boden wieder, gefolgt von Trommelschlägen und dem Klingen eines Beckens, in das sich schließlich ein Akkord von einer verstimmten Gitarre mischt.
6 Alice
Ich werde immer ich selbst bleiben, ganz egal, was ich tue. Diese Worte, die Luca mir zum Abschied mitgegeben hat, gehen mir nicht mehr aus dem Sinn. Stimmt das? Stimmt das wirklich?
Ein Klempner, der einen Roman schreibt, bleibt immer noch ein Klempner, ein Bäcker, der mit seinem Enkel in den Park geht, wird nicht auf einmal zum Babysitter und ein Journalist, der eine Wand streicht, wird kein Malermeister. Obwohl … Okay, jetzt ist es amtlich, Luca ist nicht mal einen Tag weg und schon fange ich an durchzudrehen.
Er hat mir eine SMS geschickt, als er angekommen ist.
Darin schreibt er, dass alles in Ordnung ist und er heute Abend versuchen wird, mich über Skype anzurufen. Ich muss gestehen, dass ich es kaum erwarten kann, seine Bleibe zu sehen. Ich habe sie mir schon bis ins kleinste Detail ausgemalt: ein großes Loft mit freiliegenden roten Ziegelmauern, eine Säule in der Mitte des Raums, eine breite Fensterfront, die auf eine abschüssige Straße geht und durch die man im Hintergrund den Strand sieht. Eine offene Kochnische, gedämpftes Licht und nebenan natürlich ein schwuler Nachbar.
Ich bin noch ganz in diese Gedanken versunken, als ich kurz vor acht heimkomme, wie jeden Tag, denn bei mir zu Hause herrschen eiserne Regeln, was die Essenszeiten betrifft. Doch als ich die Tür öffne, merke ich sofort, dass etwas nicht stimmt. In der Wohnung herrscht vollkommene Stille, und vor allem riecht es nicht so, als käme hier gleich eine leckere Mahlzeit auf den Tisch.
Alle Türen zum Flur sind geschlossen, und man hört bloß eine erregte Stimme aus dem Schlafzimmer meiner Eltern. Mitten im Flur steht meine Mutter, sie hat die Augen geschlossen.
Ich lasse meine Tasche fallen und laufe schnell zu ihr.
»Was ist denn hier los?«, frage ich.
Ich habe den Satz noch nicht beendet, da wird die Stimme im Schlafzimmer plötzlich lauter. Das ist mein Vater, er brüllt, aber ich kann nicht verstehen, worüber er spricht.
»Mama, jetzt sag schon, was ist passiert? Ist etwas mit Federico?«
Sie schüttelt den Kopf, und genau in dem Moment öffnet sich die Tür von Federicos Zimmer und er erscheint mit diesem erstarrten Gesichtsausdruck, den er immer aufsetzt, wenn er keine Gefühle zeigen will.
»Papa hat keine Arbeit mehr«, sagt meine Mutter mit zusammengepressten Lippen.
»Was? Wie das denn? Einfach so, Knall auf Fall?«
»So Knall auf Fall war das nicht, wir haben bloß nicht mit euch darüber gesprochen. Jetzt ist es offiziell.«
»Was heißt das, ihr habt nicht darüber gesprochen? Aber man kann ihn doch nicht einfach so fortschicken, das können die doch nicht …«
»Die können alles, Alice. Die Fabrik steht kurz vor dem Konkurs und im Moment weiß niemand, wie es weitergeht.«
Im Schlafzimmer brüllt mein Vater weiter herum und diesmal kann ich einige Worte verstehen: Entlassung, Arbeitsamt, Produktionsverlagerung, »alle nach Hause geschickt« und unendlich viele »die können mich mal«.
»Ich kann doch mit anpacken«, sagt Federico. »Ich such mir einen Job …«
Meine Mutter schüttelt den Kopf. Für einen Moment erinnert mich diese Bewegung an Lucas Mutter und ich muss darüber nachdenken, wie Schmerz ein Gesicht doch immer auf die gleiche Weise verzerrt, auch wenn die Ursachen unterschiedlich sind. Ich frage mich, wo der Schmerz endet, den man jemandem nicht ansieht.
»Du musst zur Schule«, sagt meine Mutter.
»Ich bin vierzehn, ich kann arbeiten gehen.«
»Nein, das kannst du nicht!«,
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