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Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)

Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)

Titel: Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Harbort
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einfach auf die Wange. Jetzt konnte er nicht anders, er musste etwas tun. Er griff nach ihrer Hand und drückte fest zu.
    »Hast wohl nicht viel Erfahrung, wie?«
    Seine Antwort kam zögerlich: »Och, geht so.«
    Sie küsste ihn auf den Mund. Er ließ es geschehen. All das kam ihm irgendwie unwirklich vor, als wenn er sich selbst beobachten oder träumen würde. Aber es war aufregend.
    Nach der Vorstellung schlenderten sie noch eine Weile durch die Bottroper Innenstadt. Eng umschlungen. Sie waren jetzt ein Liebespaar, »gingen« miteinander. Um 23 Uhr brachte er sie nach Hause.
    Erst während des Heimwegs löste sich die Verkrampfung, die ihn daran gehindert hatte, das zu sagen, was er hätte sagen wollen, das zu tun, was er hätte tun wollen. Die Benommenheit war wie weggeblasen. Immer stärker begann ein Gefühl von ihm Besitz zu ergreifen, das er nicht kannte, das aber wie eine Droge wirkte: Euphorie. Am liebsten hätte er Rita sofort geheiratet. Er dachte an ein eigenes Häuschen, auch an Kinder. Und er war unendlich erleichtert, die Pechsträhne war vorbei. Endlich. Es kam ihm so vor, als sei ein Raum geöffnet worden, aus dem er nicht hatte entweichen können, der einmal seine Zelle gewesen war. Jetzt war er frei. Nun würde alles anders werden, besser. Am liebsten hätte er jemandem davon erzählt, er war so aufgekratzt. Aber da war niemand, der ihm wirklich hätte zuhören wollen. Seine Eltern ließ er im Ungewissen, seine Geschwister, die »Tratschen«, sowieso. Nur im Kollegenkreis offenbarte er sich. Aus »Gertrud« wurde Rita.
    Die hatte nach gut einer Woche sturmfreie Bude. Was dann geschehen sollte, war unausgesprochen geblieben. Aber beide wussten, worum es sich drehte.
    Schließlich passierte es. Ihr Kommentar: »Das ging aber ’n bisschen fix!« Er war enttäuscht, er schämte sich, er wusste nicht, was er sagen sollte. Am liebsten hätte er sich irgendwo verkrochen. Jetzt litt er wieder unter dieser überwunden geglaubten Beklemmung, dieser sein Selbstwertgefühl bedrängenden Schreckensvision: dass es nochmal so kommt. Drei Tage später versuchten sie es erneut. Dasselbe Ergebnis. Wieder ein Desaster. Rita war stocksauer: »Was soll das denn!« Und als es beim dritten Mal nicht besser wurde, war er nur noch die »Pulle«, die »Lusche«. Rita hatte genug: »Jetzt reicht’s aber, du bringst es ja eh nicht. Hau ab!« Diese Worte trafen wie Keulenschläge – die Hoffnungen zerschmettert, sein Gefühlsleben ein Scherbenhaufen. Die Tür zu seiner Zelle war jetzt wieder fest verrammelt. Und er wagte es nicht, daran zu rütteln, es wäre doch ein aussichtsloses Unterfangen. Rita war für ihn fortan nicht mehr zu sprechen. Er war wieder sein eigener Gefangener.
    Das zarte Pflänzchen Hoffnung war nicht einfach verblüht, es war ausgerissen worden – mit Stumpf und Stiel. Er konnte sich das nicht erklären. Er war ratlos, fassungslos. Immer kurz bevor er mit Rita hatte verkehren wollen, war er zum Höhepunkt gekommen. Unversehens. Ungewollt. Unwiderruflich. Er hatte sich gründlich blamiert. Daran zweifelte er nicht. Beim letzten Mal war er unter der Last ihres Hohngelächters, ihres beißenden Spotts eingeknickt, zusammengebrochen. Nur die Tränen hatte er unterdrücken können. Das ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Wieder einmal hatte er verloren – seine Freundin, seinen Mut, seine Selbstachtung.
    Er hätte es weiterhin probieren können; wenn nicht mit Rita, dann mit einem anderen Mädchen. Aber er wollte sich neuerliche Enttäuschungen und Demütigungen ersparen. Er war überzeugt, es würde ihm partout nicht gelingen. Er hatte genug davon. Auf die Idee, einen Arzt zu konsultieren, kam er nicht.
    Bis dahin hatte er sich alles gefallen, hatte alles mit sich machen lassen. Sein Persönlichkeitsprofil war dementsprechend: blass, konturenlos. Selbstwertgefühl und Durchsetzungsvermögen hatten sich nicht entwickeln können, er blieb ein seelischer und sozialer Krüppel. Aber nach all den Jahren der erzwungenen Unterwürfigkeit braute sich jetzt etwas zusammen. Er hatte zu viel geschluckt und zu wenig verdaut. Zwölf Monate hatte er Kohlen geschleppt. Das war ihm zu beschwerlich und zu gefährlich gewesen. Denn: Erst war ihm eine Grubenlampe auf den Fuß gefallen, dann hatte er sich eine Fingerkuppe gequetscht, schließlich das Schienbein aufgerissen. Er schmiss die Arbeit hin. Sein Vater polterte: »Schwächling! Was glaubst du, wer du bist!« Egal. Mit 21 zog er aus. Nur seine Mutter vermisste

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