Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)
konzentrieren.
»Endstation.« Renate Göbel hatte verstanden. Der freundliche ältere Herr mit dem schütteren grauen Haar hielt in Walstedde, einer 3000-Seelen-Gemeinde, 20 Kilometer südöstlich von Münster. Er wohnte dort. »Vielen Dank noch mal!« Der Mann nickte kurz und fuhr mit seinem grauen Opel-Rekord davon. Ihrem Ziel war Renate näher gekommen, sie wollte nach Hamm. Denjenigen, die sie mitnahmen, erzählte sie immer eine Geschichte. Niemand sollte wissen, wohin und zu wem sie tatsächlich wollte. Es war 13.35 Uhr, als sie Walstedde verließ und auf der Bundesstraße 63 in Richtung Hamm lief.
Er ließ seinen Blick noch eine Weile prüfend hin und her wandern, dann stellte er hocherfreut fest, dass die Gegend sich für sein Vorhaben bestens eignete: Wiesen, Äcker, Weiden, ein größeres Waldgebiet, Feldwege, nur hin und wieder ein Gehöft, eine kaum befahrene Landstraße. Er war angekommen. Knapp 90 Kilometer hatte er zurückgelegt. An der Haltestelle »Buttermann« – Namensgeber war der dortige Gasthof – stieg er aus. Es war 13.45 Uhr. Dem typischen Fachwerkbau mit den braunen Ziegelsteinen, weißen Fugen und schwarzen Holzbalken schenkte er kaum Beachtung. Er entschied sich, auf dem Randstreifen der Bundesstraße 63 in Richtung Walstedde zu laufen. Bis dort waren es noch etwa anderthalb Kilometer.
Wenige Minuten später erregte etwas seine Aufmerksamkeit. Vielleicht einen halben Kilometer voraus kam ihm jemand entgegen. Er war sich nicht sicher, weil ein hellgrüner Schal das Gesicht bis zur Nase verdeckte – doch Größe und Konturen ließen eine Frau vermuten. Sein Schritt wurde langsamer. Er kniff prüfend die Augen zusammen. Und dann erkannte er den dunklen knielangen Rock. Sofort drehte er sich um. Niemand da. Er ließ seinen Blick unauffällig umherschweifen. Alles ruhig. Die nimmst‘ dir jetzt! Keine Menschenseele weit und breit. Er umfasste mit der rechten Hand das Taschenmesser, das er in der linken Innentasche seiner Jacke trug. Am liebsten wäre er gelaufen, aber er durfte keinen Verdacht erregen. Es waren vielleicht noch 200 Meter. Sein Gang war hastig. Er wollte sich diese Chance nicht entgehen lassen. Es war die Gelegenheit.
8
Franz Dietrich machte sich gegen 14 Uhr auf den Rückweg. Er hatte seinen Acker, der an das Waldstück »Lückmannsbusch« grenzte, mit Asche bestreut. Der 45-Jährige betrieb einen Bauernhof, nahe der Bundesstraße 63, knapp einen Kilometer von Walstedde entfernt.
Wie immer radelte er den Waldweg entlang, ein paar Minuten später passierte er die Lichtung. Als er einen größeren Wassertümpel umfahren musste, stutzte er. Dietrich hielt an und lehnte sein Fahrrad an einen Baum. Da lag etwas, keine zehn Meter entfernt. Er hielt es für eine Puppe. Einige Augenblicke später war er sich schon nicht mehr so sicher. Er ging noch ein paar Schritte, um sich Gewissheit zu verschaffen. Entsetzt wich er zurück, schnappte sich das Rad und trat kräftig in die Pedalen. Ihm war unheimlich zumute. Er würde diesen Tag niemals vergessen können. Es war der 8. Februar 1955.
Zu Hause angekommen wählte er die Nummer der Kripo in Lüdinghausen: »Ich habe im Wald eine Leiche gefunden, wahrscheinlich ein junges Mädchen.« Der Kriminalbeamte erklärte ihm, dass er zu Hause bleiben solle, um die Ermittler zum Fundort zu führen.
Zehn Minuten später erschienen zwei Kriminalisten. Dietrich führte die Beamten zur Fundstelle, nur 170 Meter von der Bundesstraße 63 gelegen. Die Ermittler erkannten rasch, dass jede Hilfe zu spät kam. Wenig später forderte einer der beiden Verstärkung an: »Schickt noch einen Streifenwagen. Und sagt denen in Münster Bescheid.« Die Kriminalpolizei in Münster war als »Hauptstelle« zuständig für die Bearbeitung von »Kapitaldelikten« in dieser Region.
Eine Stunde später machten sich zwei Beamte des 1. Kriminalkommissariats an die Arbeit, der Tatort musste untersucht und dokumentiert werden. Der Leichnam befand sich etwa 11 Meter vom Waldweg entfernt, ausgestreckt in Bauchlage. Der Kopf lag auf der linken Seite auf einem mit Moos bewachsenen flachen Baumstumpf. Die Beine waren lang ausgestreckt, der linke Arm lag teilweise unter dem Oberkörper, der rechte abgespreizt auf dem Waldboden. Die Bekleidung saß »nicht regelgerecht«: Rock und Pullover hochgeschoben, Büstenhalter und Unterrock heruntergezogen. Dem Opfer waren Stich- und
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