Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)
Fenster und starrte auf die Straße. Er hatte ein Messer in der Hand, und sie war ihm ausgeliefert. Sein Herz begann schneller zu schlagen, er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Das Kribbeln in der Magengegend wurde stärker. Er knöpfte sein Hemd weiter auf, mit den schweißfeuchten Händen fuhr er sich durch die Haare. Das »komische Gefühl« war wieder da, und es ging nicht weg. Er öffnete das Fenster, atmete mehrmals tief durch. Vergebens. Er wurde es einfach nicht los – und die Bilder im Kopf auch nicht. Er hatte mittlerweile Gefallen daran gefunden. Er stellte sich vor, das Mädchen hätte Angst vor ihm, er würde gleich über sie herfallen. Und dann passierte es – zum x-ten Mal.
Lange Zeit hatte er sich an den schaurig-schönen Bildern berauschen können. Begierig war er eingetaucht in die blutige Vision eigener Omnipotenz. Das Kino im Kopf war aufregend gewesen, immer wieder hatte er sich etwas anderes einfallen lassen, ganz nach seinem Geschmack. Aber irgendwann hatte er sich nicht mehr mit der Illusion begnügen wollen, denn die befriedigte nicht wirklich, nicht restlos. Er wurde nicht mehr richtig satt. Er wollte etwas erleben, sich selbst erfahren, hautnah und real. Die Schändung brauchte eine Bühne, er gierte nach einem Opfer aus Fleisch und Blut.
Zwei Tage zuvor war es ähnlich gewesen. Das Verlangen hatte ihn aus der Wohnung getrieben, er war mit Bus und Bahn unterwegs gewesen; mehr als zehn Stunden lang. In einem Waldgebiet in der Nähe von Hamm hatte er sogar eine junge Frau gesehen, die ihren Hund ausführte. Er war ihr hinterhergelaufen, hatte sie immer wieder angestarrt. Es hätte passieren können. Aber sie war unbehelligt davongekommen, er hatte sich nicht getraut. Als er jetzt wieder an die junge Frau denken musste, wollte er sie poppen und kaputtmachen. Allerdings nicht in seiner Scheinwelt, wo er die Schreie seiner Opfer nicht hören, wo er ihre Haut nicht berühren, wo sein Messer keine Wunden reißen konnte. Und wenn er sie nicht finden würde, dann eben irgendeine andere. Irgendeine.
Renate Göbel stand kurz vor zwölf wieder an der Ausfahrt einer Raststätte; diesmal in der Nähe von Osnabrück. Der Fahrer des blauen Mercedes hatte sie nach einer Pinkelpause einfach stehen lassen. Er hatte sich sehr um sie bemüht. Grundsätzlich war sie auch nicht abgeneigt, auf der »Hansalinie« hatte sie schon so manch netten Kerl aufgegabelt. Aber sie bevorzugte stämmige Lastwagenfahrer. Das hatte sie ihrem Begleiter auch zu verstehen gegeben. Eine Viertelstunde später wurde sie wieder mitgenommen.
Das »komische Gefühl« hatte etwas nachgelassen. Aber er spürte diesen Drang, diese innere Anspannung; auch jetzt, als er in der S-Bahn Richtung Dortmund saß. Schräg gegenüber unterhielten sich zwei Frauen. Er schätzte sie auf 30 bis 35. Sie sprachen angeregt über ihre Kinder. In seiner braunen Wolljacke steckte ein Gegenstand, den er jetzt fest umklammert hielt. Er hörte gar nicht mehr zu, er stellte sich nur vor, wie er sie aufschlitzen und ausnehmen würde. Er war in Gedanken so sehr damit beschäftigt, dass er gar nicht bemerkte, wie die Frauen beim nächsten Halt den Zug verließen.
Er wollte ins Münsterland fahren, dort in Waldgebieten umherstreifen, ein Opfer aufstöbern. Bottrop und Umgebung waren ihm zu unsicher. Er hatte Angst, dass ihm dort jemand begegnen oder dass ihn jemand während der Tat beobachten könnte, der ihn kannte und der ihn an die Polizei verraten würde. In Münster war er schon häufiger gewesen, er hatte dort um Arbeit nachgefragt. Auch die angrenzenden Regionen kannte er so gut, um sich dort orientieren zu können. Das war ihm wichtig.
Gegen 12.55 Uhr bestieg er in Hamm die Buslinie 5. Endstation sollte das knapp 50 Kilometer entfernte Münster sein. Er wusste, dass der Bus größtenteils über Land fahren würde. Ideal. So konnte er in aller Ruhe die Gegend taxieren. Er wollte dort aussteigen, wo er glaubte, optimale Bedingungen vorzufinden. Irgendwo. Er spürte, dass es jetzt nicht mehr lange dauern würde. Die Anspannung wurde größer, sein Herz begann merklich schneller zu schlagen, mit einem Mal war auch das „komische Gefühl“ wieder da. Er wischte mit der rechten Hand am Fenster entlang, er wollte alles ganz genau erkennen können. Seine Handfläche zeichnete dabei einen feinen Schweißfilm auf die Scheibe. Er war aufgeregt. Seine Phantasien ließ er nun nicht mehr zu, er wollte, er musste sich
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