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Ich nannte ihn Krawatte

Ich nannte ihn Krawatte

Titel: Ich nannte ihn Krawatte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Michiko Flasar
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es zu erreichen, in einem ungeschehenen Raum zu verharren. Eine Kugel, die still im Abseits liegt und keine andere in Bewegung setzt. Indem man sich aussperrt, fällt man aus dem engmaschigen Geflecht von Kontakten und Beziehungen und man ist erleichtert darüber, nichts dazutun zu müssen. Diese Erleichterung: Man muss keinen Beitrag mehr leisten. Endlich gesteht man sich ein, dass einem die Welt vollkommen gleichgültig ist.

39
    Es ist nicht leicht, einen Hikikomori in der Familie zu haben. Gerade am Anfang nicht. Man weiß: Da ist die Schwelle, dahinter sein Zimmer, darin hat er sich totgestellt. Er lebt noch, man hört ihn manchmal, viel zu selten, auf und nieder gehen. Man stellt ihm sein Essen vor die Tür und sieht, wie es verschwindet. Man wartet. Bestimmt muss er einmal ins Bad, auf die Toilette. Man wartet umsonst. Die erste Zeit bin ich nur hinaus, wenn ich mir sicher war, dass niemand mich in meinem Dasein stören würde. Mein Dasein bestand darin, dass ich fehlte. Ich war das Sitzkissen, auf dem keiner saß, der Platz am Tisch, der leer blieb, die angebissene Pflaume auf dem Teller, den ich zurück vor die Tür gestellt hatte. Indem ich fehlte, hatte ich gegen das Gesetz verstoßen, das besagt, dass man da sein und wenn man da ist, etwas tun, etwas erreichen muss.
    Es ist aber auch nicht sonderlich schwierig, einen Hikikomori in der Familie zu haben. Die anfängliche Verzweiflung darüber zerstreut sich. Man ist nicht länger verzweifelt über sein Fehlen, eher verzweifelt darum bemüht, es zu verbergen. Eine Schande das. Unser einziger Sohn. Die Leute haben begonnen, über uns zu sprechen. Schiefe Blicke bei Fujimotos. Man tuschelt, ich kaufe für drei, wo ich doch eigentlich nur für zwei einkaufen sollte. Wenigstens hat er die Vorhänge zugezogen. Nicht auszudenken, was wäre, wenn man ihn sähe. Du weißt doch, was damals mit Miyajimas. Auch für sie hat man am Ende kein gutes Wort mehr gehabt.
    Vater und Mutter waren sich einig: Name und Ruf mussten um jeden Preis gewahrt werden. Sie stritten viel darum, wer schuld sei an meinem Rückzug und wer der Schuldigere sei. Sie stritten leise, gerade leise genug, dass die Nachbarn sie nicht hören konnten. Du hast ihn verwöhnt, hießes dann. Oder: Du bist nie für ihn da gewesen. Was aber Name und Ruf anging, waren sie sich einig, und ihre Einigkeit war mein Vorteil, da sie mir erlaubte, mich immer weiter zurückzuziehen.
    Nur einmal haben sie versucht, mich herauszuholen. Am Höhepunkt ihrer Verzweiflung angelangt, brachen sie mit einem Stemmeisen die Türe auf. Vater stürmte herein, er war außer sich. Und wenn ich dich hinaus prügeln muss! Er erhob seine Hand. Kumamotos. Sekundenlang in der Luft. Ich wich zurück. Pfeifend ging sie hernieder. Schlug ins Leere. Sackte kraftlos zu Boden. Ich sagte: Ich kann nicht mehr. Sagte es mehr zu mir selbst. Ab da ließ man ganz von mir ab.

40
    Haben Sie zugehört?
    Ein Hm.
    Dann schwieg er. Sein Schweigen bewertete nicht, was und wie ich es gesagt hatte. Es war ein Hm, weiter nichts, und mit einem Hm wanderte die Sonne quer über den Himmel. Als wir wieder zu sprechen begannen, waren es Kleinigkeiten, bei denen wir verweilten. Das Wochenende. Das Wetter. Wenn es so schön bleibt, fahren wir morgen ans Meer. Kyōko liebt das. Irgendwohin fahren.
    Noch ein Hm.
    Dann war er eingeschlafen.
    Mir fiel auf, dass ich vieles ausgelassen hatte. Zum Beispiel hatte ich ausgelassen, dass Kumamoto mich manchmal seinen Zwilling genannt hatte. Genauer: seinen Seelenzwilling. Ich hatte ausgelassen, dass ich ihn vermisste. Ich hatte ausgelassen, dass Mutter sehr oft um mich weinte. Unddass Vater nie vergaß, mir mein Taschengeld unter der Tür zuzuschieben. Ich hatte ausgelassen, dass es gerade diese Auslassungen waren, die meiner Geschichte Kontur verliehen. Kumamoto hatte Recht behalten: Man könnte Sterbegedichte schreiben, Millionen, über ein und denselben Tod, und doch sagten sie, jedes einzelne, etwas anderes, je nachdem, was sie ausließen.

41
    Samstag und Sonntag schlichen träge dahin. Unser Abschied war unbeschwert gewesen. Also, dann. Mach es gut. Man sieht sich. Keine Peinlichkeit hatte sich zwischen uns gestellt, und umso ungeduldiger wartete ich auf Montagmorgen. Ob er wohl wiederkäme? Die Frage beklemmte mich. Sie klang wie das Rattern der Schienen. Wie ein jetzt! jetzt! jetzt! Und eine glatte Durchsage: eine

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