Ich nannte ihn Krawatte
und die Gelegenheiten waren reichlich, denn er war ein gutaussehender, zudem ein gutverdienender Mann. Ich staunte über seine Fähigkeit, von einem Körper zum andern zu bummeln. Er sagte es so: Ich bummle. Wie schaffst du das nur, dir nichts anmerken zu lassen? Darauf er: Das ist keine Kunst. Mit einer ersten Lüge fängt es an. Man setzt sie ein. Ins System. Sie treibt Wurzeln darin. In diesem ersten Stadium ihres Wachstums reichte ein Ruck, um sie herauszureiÃen. Es folgt die zweite Lüge. Die Wurzeln greifen tiefer. Die dritte, die vierte, die fünfte Lüge. Nunmehr braucht es eine Schaufel. Die sechste. Die siebte. Es braucht einen Bagger. Das Wurzelwerk hat sich bereits weit verzweigt. Ein unterirdisches Geflecht. Man sieht es nicht. Erst wenn man es ausheben würde, wäre es sichtbar als das Loch, das bliebe. Die achte, die neunte, die zehnte Lüge. Irgendwann ist das System zur Gänze durchdrungen. Bei dem Versuch, die Wurzeln aus der Erde zu stechen, würde die Oberfläche in sich zusammenbrechen.
Hashimoto bummelt noch heute. Erst kürzlich bin ich ihm in einem Kaufhaus über den Weg gelaufen. Ich fragte: Wie geht es dir? Er: Keine Einbruchstellen. Sein Lachen war unbeschadet. Er hatte sich seine jugendliche Frische bewahrt. Und deine Frau? Dort drüben steht sie doch. Er zeigte auf eine Gruppe von Frauen, die an einem Wühltisch standen. Die mit dem Halstuch. Ich erschrak. Ein zerstörtes Gesicht. Sie war hundert, nein, hunderte Jahre alt. Was ist passiert? Er lachte, die weiÃen Zähne gebleckt: Das Leben! Mensch! Das Leben! Ein Quäntchen zu laut. Ich sah ihnen nach, wie sie die Rolltreppe nach oben verschwanden, er gerade, sie gebeugt, ein ungleiches Paar. Ihre Rücken standen gegeneinander, ein jeder für sich allein.
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Was ich sagen möchte. Die Lüge hat ihren Preis. Einmal gelogen, findet man sich in einem anderen Raum. Man lebt unter einem Dach, hält sich in denselben Zimmern auf, schläft im selben Bett, wälzt sich unter einer Decke. Die Lüge aber frisst sich mitten hindurch. Sie ist ein Graben. Unüberbrückbar. Sie macht, dass ein Haus in zwei Teile zerfällt. Und wer weiÃ, ob es sich mit der Wahrheit nicht ebenso verhält?
Ich, der KyÅko niemals betrogen hat, fühle mich so, als ob ich eine Geliebte hätte. Ihr Name ist Illusion. Sie ist nicht schön, aber hübsch genug. Lange Beine. Rote Lippen. Gelocktes Haar. Ich bin verrückt nach ihr. Zwar möchte ich kein neues Leben mit ihr beginnen, baue aber trotzdem Luftschlösser mit ihr. Ich führe sie in die teuersten Restaurants der Stadt. Ich füttere sie. Ich miete ein Appartement. Ich erhalte sie. Koste es, was es wolle. Sie befriedigt mich und meine Männlichkeit. An ihrer Seite bin ich wieder jung und stark. Sie säuselt: Die Welt liegt dir zu FüÃen. Sie glaubt an mich und meine Möglichkeiten, und ich glaube an ihren Glauben an mich und lasse mich ganz und gar von ihm umschmeicheln. Ich bin ein bequemer Abenteurer.
Zu Hause schwebe ich in einer Blase. Sie ist so dünn, dass eine Berührung sie zum Platzen brächte. Also bemühe ich mich, nicht berührt zu werden. Ich sitze vor dem Fernseher und schaue die Nachrichten. Wenn KyÅko mich fragt, wie es in der Arbeit gewesen ist, oder warum ich neuerdings keine Ãberstunden mehr mache, oder ob ich in dieser oder jener Sache schon mit meinem Chef gesprochen habe, sage ich: Sch. Nicht jetzt. Sie wiederholt die Frage. Schon schwächer. Ich sage: Später. Bitte. Sie zuckt mit den Schultern. Ich wage aufzuatmen. Die Blase, in der ich schwebe, zittert kaum merklich vom Hauch meines Atems.
Es ist eine Entscheidung.
Und damit packte er sein BentŠaus. Wieder Reis mit Lachs und eingelegtem Gemüse. Ich habe mich dazu entschieden, so zu tun, als ob. Denn das ist mein Versprechen gewesen: Dass der Alltag, unser Alltag, zu unserer Zuflucht werden würde. Ihn gilt es aufrechtzuerhalten. Bis zuletzt.
Endlich schaute er mich an. Zwinkerte: KyÅkos BentÅ schmeckt einfach zu gut, als dass ich es missen wollte.
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Haben Sie Kinder, fragte ich.
Nein. Er duckte sich ein wenig. Nein. Warum?
Ich dachte mir gerade, Sie wären ein sehr guter Vater.
Ich?
Ja, Sie.
Und was bringt dich dazu, das zu denken?
Weil Sie selber manchmal wie ein Kind aussehen. Wenn Sie essen, zum Beispiel. Sie tun es wie ein Kind, das nichts anderes kennt als eben das, was es gerade
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