Das Vampir-Pendel
Der blanke Gewehrlauf mit der Mündung schob sich durch das dichte Grün des Laubs und wies haargenau auf die Stirn des Mannes, der mit hochgehobenen Händen stehengeblieben war.
Eine sekundenlange Stille folgte. Wahrscheinlich werde ich durch eine Lücke beobachtet, dachte der Mann und blieb weiterhin steif stehen.
Dann hörte er die Stimme. »Du bist Marek?«
»Ja.«
»Der Pfähler?«
»Richtig!«
Der Gewehrlauf wirkte zwischen den Blättern wie ein festgeklebter Fremdkörper. »Beweise es!«
»Gern – vorausgesetzt, ich darf mich bewegen!«
»Wenn du keine Dummheiten machst…«
»Keine Sorge, auch wenn ich nicht mehr der Jüngste bin, will ich doch am Leben bleiben.«
»Das ist gut so«, sagte die Stimme.
Den Mann hatte Marek noch immer nicht gesehen, und er dachte darüber nach, wie er wohl aussah. Sicherlich etwas unzivilisiert, aber was spielte das in dieser Gegend für eine Rolle?
Frantisek Marek, der grauhaarige, etwas kleine und immer leicht gebückt stehende Mann, bewegte seinen rechten Arm, um die Hand unter die Jacke zu schieben. Ja, er konnte beweisen, daß er der Pfähler war, und in diesem Fall blieb ihm nichts anderes übrig.
Das Holz des alten, vorn zugespitzten Eichenpflocks hatte die Temperatur der Haut angenommen. Es war warm geworden. Die Sonne stand wie ein Ball am Himmel und schickte ihre Strahlen der Erde entgegen, als wollte sie dort ein Dampfbad errichten.
Für Marek war es ein gutes Gefühl, das glatte Holz zwischen den Fingern zu spüren, und er zog den Pfahl mit einer behutsamen Bewegung hervor.
Marek hielt den Pfahl schräg. Er hatte ihn so weit nach vorn geschoben, daß ihn das durch Lücken einfallende Sonnenlicht aufleuchten ließ.
»Du siehst ihn?«
»Ja.«
»Bist du zufrieden?«
»Sicher.«
»Kann ich ihn wieder wegstecken?«
»Ich habe nichts dagegen, vorausgesetzt, du bleibst weiterhin dort stehen, wo du bist.«
»Mach ich, keine Sorge.«
Marek schielte zur Seite. Die Blätter bewegten sich, als der Mann den Gewehrlauf wieder zurückzog. Er würde einen Bogen schlagen müssen, um den Weg zu erreichen, auf dem Marek weiterhin wartete. Der Pfähler hatte seine Waffe wieder weggesteckt, und auch die Spannung hatte ihn verlassen.
Er atmete auf.
Das erste Hindernis war überwunden. Er hatte gewußt, daß es nicht einfach sein würde, zu seinem Ziel zu gelangen, auch wenn ihn von dort eine Nachricht erreicht hatte. Was sie tatsächlich wert war, würde sich noch herausstellen müssen. Wenn jedoch alles stimmte, was er durch Nachforschungen herausbekommen hatte, dann würde er, Marek, jubeln können. Aber der Weg war noch weit.
Marek befand sich in einer Gegend, in der es eigentlich nur Wald gab.
Es war eine dunkle, düstere Gegend, auch im Sommer, wenn die Sonne schien.
Der schmale Weg war nur zu ahnen, und Marek war bereits einige Stunden unterwegs. Er hatte seine alten Knochen ganz schön anstrengen müssen, und er war froh darüber, daß die Beschreibung stimmte, sonst wäre er nicht vor die Mündung des Wachtpostens gelaufen, den er noch immer nicht sah, dafür aber hörte, denn jetzt war hinter ihm ein leises Rascheln zu vernehmen, ein Zeichen, daß der Mann seine Deckung verlassen hatte. Dieser Laut hatte auch das Summen der Insekten übertönt, die mit ihrem ewigen Chor den alten Marek umschwirrten.
»Darf ich mich umdrehen?« fragte er.
»Ja, du darfst.«
Marek bewegte sich langsam. Es war einfach zu warm, und er schwitzte stark. In seinem Alter tat die Hitze wirklich nicht gut, das merkte er immer wieder. Zudem hatte er nichts zu versäumen.
Zum ersten Mal sah er den anderen, der breitbeinig vor ihm stand, ein russisches Gewehr im Anschlag. Der Mann war noch jung, nicht älter als fünfundzwanzig. Er trug eine grüne Mütze auf dem Kopf, deren Schirm er in die Höhe gebogen hatte, um besser sehen zu können. Unter den Rändern der Mütze quoll pechschwarzes Haar hervor. Auf der Oberlippe wuchs ein dichter Bart. Die Nase war gebogen und stand schief, als hätte sie irgendwann einmal mit einem harten Gegenstand Bekanntschaft gemacht.
Nicht allein die grüne Mütze deutete auf eine Uniform hin, auch die Hose und das graue Hemd mit den kurzen Ärmeln.
Die Jacke hatte der Mann um seine Koppel geschlungen und mit den Ärmeln zusammengeknotet. Seine Füße steckten in schmutzigen Stiefeln.
»Da du weißt, wer ich bin, darf ich dann fragen, mit wem ich die Ehre habe?«
»Nein, das darfst du nicht.«
»Schade.«
»Man wird es dir später sagen.«
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