Ich schnapp' mir einen Mann
gelesen. »Sie haben
dabei gewonnen, oder nicht?«
Sie runzelte die Stirn und sah ihn an, dann begriff sie und
nickte langsam. Natürlich hatte sie dabei gewonnen. Wenn sie Anton
heute, in dieser Stunde, einen Brief schriebe – sie könnte
unterschreiben mit Deine Flora. Von jetzt an und
für immer.
»Den eigentlichen Grund meines Hierseins habe ich noch nicht
erwähnt«, fuhr Kleff fort. »Wissen Sie, der Fall – Ihr
Fall – hat mich stark beschäftigt. Mehr als sonst. Ich meine,
mehr als vergleichbare andere Fälle. Ich weiß nicht, ob Ihnen geläufig
ist, welche Aufgaben die Kripo zu erfüllen hat, aber vermutlich denken
Sie wie der Rest der Bevölkerung, dass wir die Bösen schnappen. Nun, im
Grunde stimmt das auch, doch das ist es nicht allein. Wir sind nicht
nur darauf aus, anderen was anzuhängen. Wir müssen auch untersuchen,
wieso eine bestimmte Tat begangen wurde. Wir erforschen die Motive, die
persönlichen Hintergründe eines Tatverdächtigen und finden so heraus,
was ihn angetrieben hat. Und bei Ihnen hab ich das auch getan.«
Er brauchte nicht weiterzusprechen. Flora verstand ihn auch
so. Sie erkannte jetzt den Grund, warum er ihre Freunde ausgequetscht
und in ihrem Leben herumgeschnüffelt hatte.
»Es ist alles dokumentiert«, sagte er. »Die Ermittlungsakte
ist ungewöhnlich vollständig. Ich habe alles an Entlastungsmaterial
zusammengetragen, was ich auftreiben konnte. Ihre desolate finanzielle
Lage. Ihr Freund, der sie sitzen gelassen hat. Ihre Angst, sich nichts
Vernünftiges zum Essen kaufen zu können. Keine Aussicht auf Arbeit.
Keine Familie. Der Schock nach der Geschichte im Atelier.«
Flora starrte ihn nur an.
Kleff nickte. »Ja, ist alles da. Ich hab mir echt Mühe
gegeben. Ich weiß nicht mal, wieso. Das heißt, eigentlich weiß ich es
doch. Sie waren jung, hübsch und hochschwanger. Da wird jeder Mann zum
Ritter, oder? Fragen Sie mal Ihren Herrn Rechtsanwalt.« Er stand auf
und betrachtete die friedlich schlafende Amanda. »Um die
Strafverhandlung kommen Sie trotzdem nicht herum. Ich persönlich
bedaure das, aber so ist nun mal unser Rechtssystem. Doch wenn Sie mich
fragen, kommen Sie mit einem blauen Auge davon. Alles, was Sie jetzt
noch brauchen, ist ein guter Anwalt.« Er stand auf und gab ihr zum
Abschied die Hand. »Aber den haben Sie ja schon, oder?«
»Den besten«, sagte Flora.
»Hast du sie gestillt?«, fragte Anton.
»Bis zum Stehkragen abgefüllt«, erwiderte Flora, in die Jacke
ihres Kostüms schlüpfend.
»Hat sie eine frische Windel?«
»Taufrisch.«
»Hat sie aufgestoßen?«
Flora nickte und betrachtete sich im Dielenspiegel von
Antons – und jetzt auch ihrer – Wohnung. Sie war
etwas blass, doch ansonsten sah sie durchaus respektabel aus.
Anton bettete mit unendlicher Behutsamkeit die schlafende
Amanda in die Tragetasche und deckte sie zu. Er fuhr mit dem
Zeigefinger über das weiche kleine Ohr und seufzte.
»Bist du nervös?«, fragte Flora.
»Du?«
»Worauf du wetten kannst.« Sie spürte ihren Puls in der Kehle,
als sie sich den Mantel überstreifte. In den sechs Monaten seit Amandas
Geburt hatte sie ein rundes Dutzend Interviews und Fototermine mit
Bravour gemeistert, doch heute, da sie erneut in den Blickpunkt der
Öffentlichkeit treten sollte, fühlte sie sich erbärmlich.
Anton nahm die Tragetasche mit dem Baby, Flora den Aktenkoffer.
»Wir packen es«, sagte er, doch Flora hörte den Unterton von
Angst in seiner Stimme, und sie sah, wie seine Finger zitterten.
Sie stellte den Koffer kurz wieder ab und umarmte ihn. »Ich
liebe dich.«
»Ich liebe dich«, erwiderte er.
Während der Fahrt riss sie den großen braunen Umschlag auf,
den sie gerade erst aus dem Briefkasten geholt hatte. Es waren die
Druckfahnen ihres Romans.
Ihr Herz tat einen freudigen Satz, als sie das Deckblatt las.
Auf und davon!
Von Flora Zimmermann.
Ihr Ärger darüber, dass ihr eigener Titel nicht berücksichtigt
worden war, hatte sich längst verflüchtigt; spätestens beim Anblick
ihres ersten Honorarschecks war sie überzeugt gewesen, dass Auf
und davon! mindestens genauso gut, wenn nicht besser war als Ihr schnappt uns nie!
Hastig blätterte sie zur vorletzten Seite durch, bis sie die
Stelle gefunden hatte.
Ihr schwerster Gang sollte noch folgen, doch Florinda
hatte jede Hilfe, die sie sich wünschen konnte. In der offenen Tür des
Gerichtssaals stand Antonio, umflossen von gleißendem Licht wie ein
Schutzengel, er streckte ihr die Hand entgegen und
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