Ich Töte
was ihm fehlt, ist die Musik.
Er weiß, dass sie ihm niemals erlauben werden, Musik zu hören, und so schließt er manchmal die Augen und schafft es, sich welche vorzustellen. Er hat so viel Musik abgespielt, so viel Musik gehört, so viel Musik geatmet, dass er sie jetzt, wenn er sie sucht, vollkommen intakt vorfindet, so intakt wie in dem Moment, da er sie in sich eingesogen hat. Die Erinnerungen, die aus Bildern und Worten gemacht sind, aus schlechten, ausgebleichten Farben und heiseren Tönen, die entartet sind durch die Suche nach einer Bedeutung, interessieren ihn nicht mehr. In seinem Gefängnis braucht er die Erinnerung nur noch, um all seine Musik wie einen verborgenen Schatz zu heben. Es ist das einzige Erbe, das ihm dieser Mann hinterlassen hat, der einst das Recht beanspruchte, »Vater« genannt zu werden, bevor er selbst entschied, dass er nicht mehr sein Sohn sein wollte und ihm jenes Recht nahm, zusammen mit dem Leben.
Wenn er sich stark konzentriert, kann er hören, wie eine flinke Hand virtuos über den Hals einer E-Gitarre gleitet und direkt neben ihm ein wildes Solo spielt, als renne jemand atemlos eine Wendeltreppe hinauf, die sich immer weiter in die Höhe schraubt und kein Ende zu nehmen scheint.
Er hört das Schleifen der Besen auf der kleinen Trommel des Schlagzeugs oder den feuchtwarmen Atem eines Saxofonisten, der sich mühsam den Weg durch den geschwungenen Trichter seines Instruments bahnt und zur Stimme der Melancholie wird, zum ste611
chenden Schmerz der Erinnerung an etwas Schönes, das man einmal besessen hat, das einem aber, der Erosion der Zeit ausgesetzt, unter den Händen zerbröckelt ist.
Er kann sich unter eine Gruppe von Streichern mischen und über die Schulter die schnellen, leichten Bewegungen des Bogens der ersten Violine verfolgen. Oder er kann sich ganz zutraulich der sü
ßen, auf- und abschwellenden Melodie der Oboe überlassen oder in Betrachtung der geschmeidigen Finger versinken, die hinter den Saiten einer Harfe nervös hin- und hergleiten wie wilde Tiere hinter den Gitterstäben eines Käfigs.
Er kann diese Musik, die vollkommen ist wie alles, was in der Vorstellung lebt, nach Belieben an- und abschalten. In ihr findet er alles, was er braucht, all seine Vergangenheit, all seine Gegenwart, all seine Zukunft.
Um über die Einsamkeit zu siegen, braucht er nichts als diese Musik. Die Musik ist das einzige gehaltene Versprechen, die einzige gewonnene Wette. Irgendjemandem hat er einmal gesagt, dass die Musik alles ist, der Anfang der Reise und ihr Ende, ja die Reise selbst. Sie haben ihm zugehört, doch sie haben ihm nicht geglaubt.
Aber was kann man auch von jemandem erwarten, der Musik macht oder hört, aber nicht atmet?
Nein, er hat keine Angst vor dem Alleinsein.
Und außerdem ist er nicht allein.
Nie, auch jetzt nicht.
Keiner hat das bisher begriffen, und vielleicht wird es keiner je begreifen. Das ist der Grund, wieso sie in der Ferne gesucht haben, was sie direkt vor Augen hatten. Wie alle, wie immer. Das ist der Grund, wieso es ihm so lange gelungen ist, sich zwischen all den hastig huschenden Augen zu verstecken, so wie das Schwarz sich zwischen den Farben versteckt. Keiner von ihnen könnte das blendende Weiß in einem Raum wie diesem aushalten, ohne zu schreien.
Er hat dieses Bedürfnis nicht. Er hat nicht einmal das Bedürfnis zu reden.
Er lehnt den Kopf an die Wand und schließt die Augen. Nur einen Moment lang entzieht er sich der Weiße dieses Raumes, nicht weil er sie fürchtet, sondern weil er sie respektiert.
Er lächelt, während eine Stimme stark und klar in seinem Kopf widerhallt.
Bist du da, Vibo?
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Danksagung
Am Ende einer solchen Arbeit angekommen, ist es weniger eine selbstverständliche Pflicht als ein persönliches Bedürfnis, seinen Dank auszusprechen. Daher möchte ich der Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika in Rom, dem Federal Bureau of Investigation und der Sûreté Publique des Fürstentums Monaco für die Unterstützung einer Person danken, die sich als Schriftsteller vorgestellt hat, ohne es, außer in ihrem Kopf, auch schon zu sein.
Dank an Gianni Rabacchin, Mitarbeiter der Staatspolizei von Asti, und Maresciallo Pinna von den Carabinieri in Capolivero, die außer einem Namen und einem Rangabzeichen auf der Uniform auch meine Freunde sind.
Dasselbe gilt für Dr. Gianni Miroglio und Dr. Agostino Gaglio, die in einer Welt der Spitzenmedizin echte Gentlemen sind. Zu diesen gehört auch Professor
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