Ich träume deutsch
dazu machen!“ Ich war ganz aufgeregt und umarmte meine Anne in der Hoffung, dass sie „ja“ sagen würde.
„Nilgün, beruhige dich. Wir feiern kein Weihnachten und wir glauben nicht an Isa. Unser Prophet ist Mohammed.“
Mir war es egal, an was wir an dem Tag glauben sollten, ich wollte nur eine Weihnachtsgans, runde Bälle und Bratäpfel mit Vanilleeis!
Anne nahm mich auf den Arm und erklärte mir wieder mal, dass wir Türken anders und nur zu Gast in Deutschland seien, und dass wir auch nie versuchen sollten, so zu sein wie die Deutschen, denn das sei nach dem Islam ein besonders großes Vergehen.
Danach vergoss meine Anne wieder einmal ein paar Tränen, |42| gab mir einen Kuss und lächelte. Dann öffnete sie den Kühlschrank: „Baba hat eine Gans vom Wochenmarkt mitgebracht und die kommt nachher in den Backofen. Wir bekommen heute Abend Besuch“, sagte sie und zeigte mir eine Gans, die noch größer war als die von Schäufeles. Es war perfekt! Wir hatten einen Weihnachtsbaum mit echten Plastikkugeln, eine Gans und draußen schneite es. Es war Weihnachten. Auch für uns!
Baba musste noch zu Onkel Ali, um mit ihm einen Kleiderschrank aufzubauen. Ich ging mit, weil es bei Onkel Ali immer viel zu sehen gab. Sein ganzer Garten stand voller Möbel, Kühlschränke, Kisten mit abgelegten Kleidern und er hatte sogar alte Spielsachen. Bei Onkel Ali konnte man sich die Zeit gut vertreiben. Trotzdem konnte ich es kaum abwarten, wieder zu Hause zu sein. Am meisten freute ich mich natürlich auf die Weihnachtsgans. Mein Magen knurrte, und der Duft von Schäufeles Gans schwirrte immer noch durch meine Nase.
Als wir nach Hause kamen, war es bereits dunkel und ich freute mich auf das Essen. Ich rannte die Treppen hoch und blieb auf dem ersten Absatz stehen. Im Treppenhaus roch es nicht wie bei Schäufeles nach Weihnachtsgans, Zimt und Apfel. Es roch nach Knoblauch. Das mussten die Nachbarn sein, dachte ich und rannte weiter. Ich riss die Wohnungstür auf, ging gleich in die Küche und öffnete den Backofen. Der Knoblauchgeruch umnebelte mich und die „zerhackstückelte“ Gans auf dem Backblech mit Hunderten von Knoblauchzehen ließ mich erstarren. Ich konnte es nicht glauben. Es war so schrecklich! Ich war so enttäuscht, so traurig und wütend zugleich. Ich knallte den Backofen zu und schrie meine Anne an: „Das ist keine Weihnachtsgans, das ist eine blöde |43| Türkengans! Ich will keine Gans mit Knoblauch. Ich will einmal so sein wie die Deutschen!“
Ich rannte aus der Küche, sperrte mich in die Toilette ein und fing an zu weinen. Ich stopfte die ganze Klopapierrolle in die Toilette und schlug mit den Schuhen gegen die Tür. Nur weil wir Türken waren, durften wir nicht mal unsere Gans so zubereiten wie die Deutschen. Sogar das war Günah. Alles war Günah und alles war so schrecklich. Plötzlich hörte ich ein Schluchzen. Ich schlich auf Zehenspitzen zur Tür und presste mein Ohr an das Holz.
Ich schob leise den Riegel auf, öffnete die Tür und sah meine Anne auf dem Boden kauern.
Sie nahm mich weinend in die Arme und flüsterte mir ins Ohr, dass sie sehr traurig sei, aber dass wir nie so sein könnten wie die Deutschen. Ich nickte und drückte mich fest an meine Anne.
Ich fühlte mich schuldig und bat meine Anne um Verzeihung.
Später am Abend war das Haus wieder voll, und alle genossen die Gans. Ich wollte nichts essen, verkroch mich unter meiner Bettdecke und stellte mir vor, wie Schäufeles in ihrem Wohnzimmer saßen und die leckeren Bälle mit der Weihnachtsgans aßen. Der bunt geschmückte Weihnachtsbaum leuchtete im Hintergrund und Geschenke warteten darauf, ausgepackt zu werden.
Ich wollte nur ein Mal an Weihnachten so sein wie die Deutschen, nur ein einziges Mal!
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Straßen voller Sehnsucht
Die Sommerferien begannen, und Mine kam am letzten Schultag mit einem schlechten Zeugnis nach Hause. Mine sagte immer, dass ihre Lehrerin sie nicht leiden könne und sie deshalb so schlechte Noten hätte. Alle Türken hätten schlechte Zeugnisse, weil man die türkischen Kinder nicht auf der Schule haben wollte. Anne seufzte und schüttelte wortlos den Kopf. Baba sah sich das Zeugnis nie an, weil er immer der Meinung war, dass unsere Tage in Deutschland gezählt seien, und Mine bald in Istanbul in die Schule gehen würde.
Unsere Urlaubsvorbereitungen waren in vollem Gange. Anne und Baba kamen mit prall gefüllten Tüten nach Hause. Unsere Verwandten in der Heimat freuten sich jedes Jahr auf
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