Ich uebe das Sterben
Station! Nicht auch noch das! Nein, nein, nein!«
Sein Anblick erinnert mich an das Rumpelstilzchen aus dem Märchen. Auch wenn das Ganze eine gewisse Situationskomik birgt, bin ich eher erschreckt als belustigt. Was ist an meinen Bildern so schlimm, dass dieser Mensch dermaßen die Kontrolle verliert? Oder sind sie vielleicht nur der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt?
Ihn direkt anzusprechen traue ich mich nicht, denn sein Gesicht ist vor Aufregung rot, und er täte sicher gut daran, sich ein paar Beruhigungspillen einzuwerfen. Ich rechne mit dem Schlimmsten.
Still gehe ich zurück in mein Zimmer und hoffe auf baldige Klärung meiner Situation. Ich muss mich gedulden. Der Nachmittag vergeht, das Abendessen wird gebracht, es dämmert – und ich weiß noch immer nichts. Obwohl ich schon in der letzten Nacht nicht geschlafen habe, bringt mich die Ungewissheit um den Schlaf. Als der Morgen graut, graut mir auch vor der bevorstehenden Arztvisite und der Diagnose.
Ich bin völlig übermüdet, mir bricht ständig der Schweiß aus, der Kloß im Hals macht es mir unmöglich, etwas von meinem Frühstück zu essen.
Gegen elf Uhr hat das Warten ein Ende. Eigentlich weiß ich bis heute nicht, wie ich die Aussage des Stationsarztes bei der Visite deuten soll: »Ihr Gehirn ist zu klein!« Er sagt nicht mehr und nicht weniger – auch nicht, als ich noch mal nachhake.
Was bedeutet es wohl, ein zu kleines Gehirn zu haben? Bin ich schwachsinnig oder einfach nicht komplett entwickelt? Glücklicherweise schlägt meine Selbstironie durch, und es kommen zwei Erklärungen für mich infrage: Schrumpfkopf oder ganz schlicht blonde Frau. Letztendlich bin ich einfach nur froh, dass ich keinen Tumor oder irgendetwas Schlimmes habe. Denn offensichtlich lebe ich schon viele Jahre recht gut mit diesem Hirn, egal ob groß oder klein. Das beruhigt mich.
Die folgenden Tage sind vollgepackt mit recht unspektakulären Untersuchungen wie Ultraschall, EKG , EEG , Röntgenaufnahmen. Keins der Ergebnisse, die zutage kommen, bringt mich oder die Ärzte ins Grübeln. Aber auf der Suche nach den Ursachen meiner Synkopen kommen wir auch nicht weiter.
Als ich endlich den lang ersehnten Nachhauseweg antrete, sind meine Synkopen immer noch ein Rätsel ohne Lösung. Den Eventrecorder trage ich weiterhin bei mir.
Verdrängung ist noch immer eine meiner besten Disziplinen, und deshalb denke ich mir die Situation schön und führe meine vielen Bewusstlosigkeiten ganz lapidar auf den Stress zurück.
Der Klinikaufenthalt und die vielen Synkopen haben mir ziemlich zugesetzt; ich bin müde und schlapp, fühle mich kraftlos. Zwei weitere Wochen werde ich krankgeschrieben.
Fast vier Wochen sind inzwischen ohne eine einzige Synkope vergangen. Ich fange an zu vergessen: die Momente der Bewusstlosigkeit, voll Angst. Den unruhigen Herzrhythmus. Die Erlebnisse in der Klinik.
Es ist Sommer, und nächste Woche gehe ich wieder arbeiten.
Doch erneut verläuft mein Leben frei nach John Lennons Motto: »Leben ist das, was passiert, während du eifrig dabei bist, andere Pläne zu machen.«
30. Juli 1999, neun Uhr vierzig. Ich liege in meinem Hochbett und lese. Plötzlich ist er wieder da, der brummende Hornissenschwarm. Ich schwitze, ich ringe nach Luft, ich schreie.
Als ich das Bewusstsein wiedererlange, sitzt einer meiner Mitbewohner neben mir auf dem Bett. Er hat den Aufzeichnungsknopf an meinem Eventrecorder betätigt.
Ich zittere am ganzen Körper, mir ist furchtbar übel.
Zu zweit schleppen mich die Jungs über die Treppe des Hochbetts ins Badezimmer. Dort setze ich mich vor die Toilette und erbreche immer wieder. Mein Körper wird durchgeschüttelt vom Brechreiz und von kalten Schauern, die mir über den Rücken laufen.
Als die Übelkeit nachlässt, klebt immer noch kalter Schweiß an meinem Körper. Ich will unbedingt unter die Dusche. Mein Mitbewohner hilft mir hinein. Ich sitze in der Wanne und spüre nichts als das warme Wasser, das über meinen Körper rinnt. Mein Kopf ist völlig leer, und es spielt überhaupt keine Rolle, dass ich komplett nackt vor meinem Mitbewohner sitze. Irgendwie bin ich hier und doch nicht da.
Plötzlich sitze ich auf dem langen Flur der kardiologischen Station des Städtischen Klinikums Darmstadt, wohin mein Mitbewohner mich gebracht hat, um die aufgezeichneten Daten auf dem Eventrecorder auszuwerten.
Wie aus weiter Ferne nehme ich die Stimme eines mir vom vergangenen Klinikaufenthalt bekannten Arztes
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