Ich uebe das Sterben
wahr: »Meine Güte, sind Sie schon wieder hier. Sie kosten Ihre Krankenkasse aber auch jede Menge Geld!« Ich kenne den Arzt gut genug, um zu wissen, dass er ein Späßchen mit mir machen will, doch seine Worte erreichen mich nur wie durch eine Wolke. Betroffen sieht mich der Arzt an, tätschelt mir die Schulter und geht weiter.
Dann ist da noch die freundliche Krankenschwester, die mich in ein Zimmer bringt. Dort lege ich mich mit meinen Kleidern auf das Bett und fange an zu weinen. Die Schwester bringt mir ein Beruhigungsmittel. Aber das macht alles nur schlimmer. Ich kann weder schlafen noch wach sein. Ich komme mir vor wie ein betrunkener Schlafwandler – zu müde, um klare Gedanken zu fassen, zu wach, um meine Angst ignorieren zu können. Ich zittere so sehr, dass mein ganzes Bett bebt.
Wie in Trance nehme ich eine Ärztin wahr, die das Zimmer betritt. Sie möchte mit mir die Ergebnisse der Aufzeichnungen besprechen. Plötzlich bin ich hellwach. Auf dem Recorder ist eine Episode einer Torsade-de-pointes-Tachykardie aufgezeichnet.
Dieses Wort lässt mich stumm, still und regungslos in die Kissen sinken. Es handelt sich um eine spezielle Art des Kammerflimmerns. Kammerflimmern wiederum bedeutet, dass das Herz völlig unkontrolliert kontrahiert – es ist gleichzusetzen mit einem Herz-Kreislauf-Stillstand. Das Herz kann in der Regel nur durch eine Schockabgabe aus einem Defibrillator wieder in den normalen Sinusrhythmus gebracht werden.
Mein Herz schaffte den Weg aus dem Kammerflimmern bisher offensichtlich ohne fremde Hilfe. Glücklicherweise.
Umgehend werde ich auf die Intensivstation verlegt, wo man mich an einen Monitor anschließt, der meinen Herzrhythmus anzeigt und Alarm gibt, wenn dieser aus dem Takt gerät.
Die Ereignisse überschlagen sich. Ich weiß nicht, wie viele Ärzte an diesem Tag noch den Weg zu mir finden, aber es sind genug, um mir keine Zeit zum Nachdenken zu lassen. Erst am späten Nachmittag wird mir klar, wie nahe ich dem Tod war. Und das nicht nur heute, sondern mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auch all die anderen Male, als ich schwitzend und zitternd das Bewusstsein wiedererlangte.
Die Tragweite des Ergebnisses kann ich an diesem Tag nicht mal im Ansatz erkennen.
Die Diagnose
D ie Atmosphäre einer Intensivstation ist eine ganz besondere. Es gibt keinen Fernseher, keine Leselampe, kein Telefon, keine Blumen oder Obst auf den Nachttischen. Dafür gibt es unendlich viele undefinierbare Geräusche und viele Geräte, an deren Kabeln Menschen hängen. Menschen, die selten reden und noch seltener essen oder trinken. Dafür stöhnen sie oder gurgeln oder machen ähnlich merkwürdige Geräusche wie die ganzen Apparate. Oder sie sind einfach nur stumm und regungslos, sodass es einem schwerfällt zu glauben, dass noch Leben in ihren Körpern pulsiert.
Es ist ein komisches Gefühl, dies alles wahrzunehmen. Denn ich bin ja ständig bei vollem Bewusstsein, kann in Begleitung sogar die Toilette aufsuchen und bekomme dreimal täglich eine Mahlzeit gereicht. Ich erlebe die Geschehnisse auf der Intensivstation für zehn endlos lange Tage hautnah mit.
Das Personal gibt sich unendlich viel Mühe, mir den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten. Ich bekomme eine Schreibtischlampe aus dem Stationszimmer, damit ich abends wenigstens lesen kann. Meine liebste Lektüre sind zu diesem Zeitpunkt Comics. Besonders angetan bin ich von den Abenteuern von Bone und seinem Kumpel Ted, einer lebhaften, altklugen Wanze.
Das tägliche Highlight ist allerdings die Dusche. Darauf freue ich mich wie ein Kind auf Weihnachten. Es ist eine halbe Stunde Urlaub von all dem Elend, das mich den Rest des Tages umgibt, und eine Befreiung von den Klebeelektroden, die mich mit dem Überwachungsmonitor verbinden.
Von meinem Fenster aus sehe ich direkt auf einen kleinen Teich in den Grünanlagen der Klinik. Dort gibt es ein Entenpaar mit fünf Jungen. Diese machen zwar ordentlich Lärm, sind aber eine willkommene Abwechslung zur Stationsgeräuschkulisse. Mehrmals täglich watscheln sie am Teich entlang, tauchen ins Wasser ein, baden, plantschen und quaken. Sie machen mir sehr viel Freude – und seither esse ich keine Ente mehr.
Die Ärzte geben sich unbeschreiblich viel Mühe mit mir. Jeden Tag haben sie neue Ideen für Untersuchungen; sie wollen schnellstmöglich herausfinden, woher meine gesundheitlichen Probleme kommen. Ich bin trotz meiner Ängste und der Ungewissheit optimistisch und glaube fest daran,
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