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Ich uebe das Sterben

Titel: Ich uebe das Sterben
Autoren: Gritt Liebing
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dass es eine Methode gibt, um gegen die Herzrhythmusstörungen vorzugehen, wenn erst einmal die Ursache gefunden wurde. Dieser Gedanke gibt mir Kraft, und ich ertrage stoisch das Grauen der Intensivstation und die zahlreichen, teilweise recht unangenehmen Untersuchungen. Mein Herz schlägt in all diesen Zeiten zwar flatterig, aber nie in einer lebensbedrohlichen Unruhe. Auch das hält die Hoffnung auf eine letztlich harmlose, reparable Ursache am Leben.
    Ich versuche, meinen Tagesablauf möglichst normal zu gestalten: lesen, Musik hören, essen, duschen, Enten beobachten, in Ausnahmefällen Besuch empfangen und meinen Lebensmut nicht verlieren. Die Normalität geht sogar so weit, dass ich eines sonnigen Morgens auf dem Bett sitze und mir die Zehennägel bunt lackiere. Kleine Farbkleckse als Gemütsaufheller – auch wenn es sich nur um zehn bunte Punkte an meinen Füßen handelt.
    Je mehr Untersuchungen stattfinden und je mehr Ergebnisse derselben vorliegen, desto öfter fällt bei den Ärzten das Wort Defibrillator – genauer gesagt: implantierter Defibrillator. Ich wehre mich mit Händen und Füßen dagegen, dieses Wort auf mich persönlich zu beziehen. Bei jedem Arztgespräch, in dem der Defibrillator erwähnt wird, schalte ich auf Durchzug. Aber das Wort fällt immer öfter, denn alle Untersuchungsergebnisse lassen die Ärzte – und damit auch mich – weiterhin im Dunkeln tappen. Ich werde zur Expertin im Ignorieren dieses D-Wortes. Jedes Mal, wenn einer der Ärzte versucht, mit mir über den Defibrillator zu reden, weise ich ein offenes Gespräch weit von mir. Stattdessen mache ich mir selbst und den Ärzten Mut und äußere die Hoffnung, dass eines der noch ausstehenden Untersuchungsergebnisse eine einfache Lösung meines Rhythmusproblems bringt.
    Oder ich schlage vor, einfach wieder zurück nach Hause zu gehen. Immerhin habe ich mindestens fünfzehn Episoden solchen Kammerflimmerns mehr oder weniger unbeschadet überstanden. Die paar Schrammen und die gebrochene Nase erscheinen mir nicht wirklich relevant. Warum soll das zukünftig nicht auch so sein? Oder warum sollen die Synkopen nicht so plötzlich wieder verschwinden, wie sie kamen? Ich hänge mich an solche Gedanken, klammere mich daran wie eine Ertrinkende an den letzten Strohhalm.
    In den vielen mehr oder weniger schlaflosen Nächten schleicht mir die Angst immer öfter den Nacken hoch und lässt mich erschaudern. In diesen Momenten bin ich ganz ehrlich zu mir selbst und gestehe mir ein, was ich jedes Mal fühlte, als ich das Bewusstsein wiedererlangte: Todesnähe, Todesangst, ein Gefühl, als habe der Tod seine kalte Hand noch auf meiner Schulter liegen. Doch eines weiß ich: Ich will nicht mitgehen an der kalten Hand. Noch nicht. Ich habe so viele Pläne, so viele Ideen, und es steckt so viel ungelebtes Leben in mir.
    Das Rätsel um die Ursache erscheint mir allmählich wie ein Labyrinth ohne Ausgang. Es werden keine Kosten und Mühen gescheut. Medikamente werden aus dem Ausland eingeflogen. Ärzte in ganz Deutschland um Rat gefragt – mit dem Ergebnis, dass keiner weiterweiß.
    Nach acht Tagen Untersuchungsmarathon hat ein junger Stationsarzt eine Idee. Er ist neu auf der Station und kommt direkt aus der Kerckhoff-Klinik in Bad Nauheim. Diese ist auf den Bereich Kardiologie spezialisiert, und man hat dort kürzlich über einen besonderen Krankheitsfall diskutiert: Brugada-Brugada-Syndrom. Davon habe ich bisher noch nie etwas gehört.
    Mittels intravenösem Medikamententest will man mich am Nachmittag auf dieses Syndrom hin untersuchen. Bei der Vielzahl an Untersuchungen, die ich in den letzten Tagen über mich ergehen lassen musste, und der Unmenge an Fremdwörtern, die mir dabei begegneten, hake ich nicht weiter nach und sehe dem Test gelassen entgegen. Zum Glück.
    Ein wenig beunruhigt bin ich schon, als die Ärzte am Nachmittag zu dritt in meinem Zimmer erscheinen. Noch aufgeregter werde ich, als eine Schwester mit einem Defibrillator in der Tür erscheint. Die Ärzte erklären mir, dass dies eine reine Vorsichtsmaßnahme sei, ebenso wie eine aufgezogene Spritze, in der sich – für den Fall, dass ein Kammerflimmern auftreten sollte – ein Gegenmittel befindet.
    Doch zunächst wird durch die Nadel, die in meinem linken Unterarm liegt, ganz langsam ein Medikament – Ajmalin – in meinen Blutkreislauf gebracht. Mir wird erst heiß, dann kalt – und der Hornissenschwarm greift wieder an. Diesmal zirkuliert er durch den gesamten Körper. Ich
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