Ich uebe das Sterben
kann er aktiviert werden, und seine Aufgabe ist es, die Herzfrequenz während einer Synkope aufzuzeichnen. Damit sind die kardiologischen Untersuchungen zunächst erledigt.
Anschließend werde ich in die Neurologische Klinik nach Eberstadt verlegt. Dort soll eruiert werden, ob es sich bei meinen Ohnmachtsanfällen um ein Anfallsleiden wie beispielsweise Epilepsie handelt. Die Erlebnisse dieses Klinikaufenthaltes sind der absolute Tiefpunkt meiner Krankenhauskarriere.
Die Gebäude sind alt und dunkel. Die Station, auf der ich ungefähr zwei Wochen mein Dasein friste, befindet sich zu diesem Zeitpunkt im Umbau. Und sie ist hoffnungslos überfüllt. Ich werde als Fünfte in ein Vierbettzimmer geschoben, wo ich weder eine Klingel noch ein Licht habe. Da erscheint es schon ganz nebensächlich, dass ich auch keinen Kopfhöreranschluss für den Fernseher habe oder dass es nur eine Toilette auf dem Flur gibt – für die ganze Station. Die Luft steht im Zimmer, denn es ist Hochsommer.
Zum ersten Mal begegne ich in einem Krankenhaus unendlich vielen unfreundlichen Gesichtern; das Personal vermittelt den Patienten das Gefühl von genervtem Desinteresse. Ich fühle mich einsam, überflüssig und kann nicht glauben, dass mich oder meine Synkopen hier jemand ernst nimmt.
Meine Mitpatienten ziehen mich durch die verschiedenen Krankheitsgeschichten psychisch runter – oder regen mich mit ihrem Gejammer auf. Ich bin mir bewusst, dass diese Reaktion ungerecht ist. Aber im Krankenhaus zu sein ist eine Ausnahmesituation, und dann kann es passieren, dass man auch mal ungerecht ist. Inzwischen habe ich gelernt, dass man weder sich und seine eigene Erkrankung noch die der Mitpatienten allzu ernst nehmen darf. Sonst hält man das alles nicht durch.
Bei meinen Spaziergängen über den Flur begegne ich immer wieder einem jungen Mann mit Down-Syndrom, der einen stark gestörten Gleichgewichtssinn hat und deshalb ständig einen Helm trägt, um Kopfverletzungen zu vermeiden. Ich nenne ihn für mich liebevoll Helmi. Er ist sehr mitteilsam und erzählt mir viel, von dem ich leider nur die Hälfte verstehe. Aber es macht ihn offensichtlich glücklich, denn er lacht viel und laut.
Eines Abends rennt Helmi mit nacktem Hintern über den Flur und weint. Diesen Anblick werde ich nie vergessen; er sieht so erbärmlich traurig aus. Als die Schwestern ihn zurück in sein Zimmer schleifen, schreit er laut. Das geht mir durch Mark und Bein. Von diesem Tag an ist seine Fröhlichkeit dahin, und er schaut mich nur noch ratlos aus leeren Augen an. Ich nehme an, man hat ihn mit Medikamenten ruhiggestellt.
An manchen Tagen bekomme ich Ausgang und schlendere durch die Grünanlagen rund um die Klinik. Ich gehe am Kiosk vorbei und kaufe mir eine kalte Cola. Anschließend setze ich mich auf die Wippe am Kinderspielplatz und träume mich zurück in eine unbeschwerte Welt des Kindseins.
Ich denke an die Alm in Österreich, wo meine Mama aufgewachsen ist und wo wir fast jeden Sommerurlaub verbracht haben. Die grasenden Kühe, die Bergwiesen, der Geruch im Stall – all das zaubert mir immer wieder ein Lächeln ins Gesicht. Nicht nur dort habe ich schon früh gelernt, wie wichtig die Natur ist, und ein ganz besonderes Bewusstsein für sie entwickelt.
Oder meine Gedanken schweifen zurück zu dem großen Holztisch bei uns zuhause, an dem meine Mama mit mir und meiner Schwester Britta gebastelt und gespielt hat. Oft waren auch Freunde von uns dabei, und meine Mama verwöhnte uns mit leckerem frischgebackenen Kuchen und heißer Schokolade.
Unbeschwerte Gedanken an eine behütete Kindheit im Glück.
Diese freien Gedanken stehen im krassen Gegensatz zur Realität, die mich spätestens beim Betreten des Klinikgebäudes wieder einholt. Ich kann mir nicht helfen, aber in meinen Augen hat diese Klinik irgendetwas von einem Gefängnis und einer geschlossenen Anstalt. Überhaupt erinnert mich das ganze Szenario an einen Psycho-Film. Ich fühle mich vierundzwanzig Stunden am Tag unbehaglich, achte so gut wie gar nicht auf meinen Herzrhythmus.
Aber damit bin ich nicht alleine: Die Nachtschwester, die ich eines Nachts mit einem ziemlich flotten Herzrhythmus und Schweißausbrüchen aufsuche, interessiert sich auch nicht im Geringsten dafür. Unwirsch weist sie mich ab und mahnt mich zur Nachtruhe. Ich fühle mich schrecklich und habe Angst; gut aufgehoben bin ich in der Klinik sicherlich nicht.
Ich sehne meinen Entlassungstag herbei, doch bis dahin stehen noch einige
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