Ich übe für den Himmel
Tränen so furchtbar dick sind und meine Augen und meine Ohren vor Kummer verstopft.
Der Rettungswagen fährt mit Blaulicht und quietschenden Reifen davon.
Jonathan hält immer noch meine Hand, ganz fest, und wir stehen mitten auf der Straße. Er ist mein Freund geworden. Und ich vielleicht seine Freundin.
Ich nehme ihn mit zu mir nach Hause und wir gehen ins Zimmer mit der bunten Indiendecke. Wir sind ganz allein. Jonathan war noch nie bei uns im Haus.
Wir legen uns hin und er hält mich fest. Und ich lasse mich halten. Ganz lange. Viele, viele Sekunden und Minuten. Eine halbe Sonne lang. Irgendwann muss ich eingeschlafen sein.
Als ich aufwache, stehen Mama und Papa vor mir. Jonathan ist verschwunden.
»Ich habe einen neuen Freund«, sage ich.
»Das wissen wir schon.« Papa lächelt mir aufmunternd zu. »Er hat so lange gewartet, bis wir nach Hause kamen«, sagt Papa.
Endlich traue ich mich zu fragen: »Was ist mit Frau Schröder?«
»Frau Schröder hatte einen Schlaganfall«, fängt Mama an. »Jonathan ist auf seinem Fahrrad in das Krankenhaus gefahren, das ihm der Notarzt genannt hatte. Er hat gefragt, wie es seiner Großmutter geht, und versprochen, seine Eltern kämen später.«
»Und jetzt?« Papa legt den Arm um mich.
»Wir müssen abwarten. Mama und ich haben die Familie informiert. Wenn Frau Schröder Glück hat, lernt sie vielleicht wieder alleine gehen und sprechen.«
»Wie meint ihr das?« Gerade kommt mein Angstelefant um die Ecke. Er ist gigantisch und versucht, sich durch die Tür zu quetschen. Sein langer Rüssel schlingert schon heftig hin und her, die langen Ohren sind pausenlos in Bewegung und auch der große Kopf wiegt von links nach rechts, auf und ab. Er darf nicht reinkommen und mich erdrücken! Das will ich nicht! Hoffentlich bleibt er in der Tür stecken!
»Frau Schröder hat eine halbseitige Lähmung, rechts. Aber du kennst sie ja am besten von uns allen. Sie hat einen eisernen Willen. Ihr Herz ist in Ordnung und stark, haben die Ärzte gesagt. Wenn sie will, schafft sie es, wieder hier bei uns im Garten am Tisch zu sitzen, mit uns zu essen, zu sprechen und sich wieder zu freuen.«
Und mit mir Rosen und Beeren zu klauen, denke ich voller Hoffnung.
»Darf ich sie besuchen?«
»Nur die engsten Verwandten dürfen zu ihr. Wir müssen warten, bis sie von der Intensivstation auf ein normales Krankenzimmer gelegt wird. Sie hängt am Tropf und wird beobachtet.«
»Ich will aber jetzt hin.«
»Du weißt, es ist nicht möglich, Isha.«
Aber ich weiß genau, dass es doch möglich ist, weil ich es will und ich das auch kann. Ich schicke den Angstelefanten mit scharfen Blicken weg. Er zieht sich langsam und widerwillig rückwärts aus dem Zimmer zurück. Und ich überlege.
Mama und Papa gehen in die Küche und bereiten das Abendbrot zu. Eddie plappert und erzählt und stellt immer wieder Fragen. Welche, weiß ich nicht so genau. Denn meine Kummerohren sind noch nicht ganz offen. Die lassen sich Zeit. Das ist auch gut so. Sie schützen mich vor den vielen Geräuschen ringsum, die ich gar nicht alle hören möchte. Dafür horche ich in mich hinein. Und da ist eine Menge los.
Jonathans Schlafzimmer liegt auf der Rückseite der Villa. Er hat es mir gestern noch erzählt. Ein fetter Vollmond scheint in mein Zimmer. Ich versuche, so auf die Holzstufen der steilen Treppe zu treten, dass sie nicht knarren. Ich habe das Kleid mit den Schwalben und Wolken angezogen, weil Frau Schröder es so gerne mag. In der kleinen, aufgenähten Tasche steckt meine rote Clownsnase. In einer Hand halte ich einen meiner weichen Übungsbälle aus Stoff, die Oma immer für mich näht.
Jonathan hat mir auch verraten, wo er einen Reserveschlüssel für das Gartentor versteckt hat, für alle Fälle. Wie gut! Auf der Straße sehe ich mich nach rechts und links um, entdecke aber keine späten Spaziergänger. Autos fahren um diese Zeit kaum noch durch. Es ist bestimmt nach Mitternacht. Ich habe vergessen auf die Uhr im Flur zu gucken.
Ich schließe das gut geölte Tor der Villa auf, tappe auf Zehenspitzen um das riesige Haus herum. Jonathan soll mir sein Fahrrad leihen. Ich habe keines. Wenn ich den Spätbus nehme, wird der Fahrer garantiert fragen, warum ich um diese Zeit allein unterwegs bin. Ich will mit dem Rad ins Krankenhaus fahren, auf Schleichwegen. Bloß nicht angehalten werden.
Ich werfe Steinchen an ein geschlossenes Fenster von Jonathans Zimmer. Er meldet sich nicht. Ein anderes Fenster ist zum Glück
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