Ich übe für den Himmel
erscheint und mich entdeckt, bleibt er ruckartig stehen. Er guckt, als ob ein Gespenst vor ihm sitzt.
»Wenn ich gewusst hätte, dass du hier bist, wäre ich garantiert nicht gekommen!«
»Frau Elsebilse Schröder ist meine Super-Freundin. Sie dachte sich den Plan mit der Klassenlehrerin aus, damit wir aufhören uns ständig zu fetzen und du Freigang aus deinem Knast kriegst.«
»Du hast angefangen!«
»Nein, du!«, gifte ich zurück. Ich springe auf und wir stehen uns wie zwei Kampfhähne im Boxring gegenüber.
»Schluss jetzt, setzt euch hin. Jetzt reden wir endlich mal wie vernünftige Menschen miteinander.«
Jonathan und ich lassen uns in die Korbstühle fallen und schweigen uns an. Die Super-Freundin kommt zu uns, ihr Fingerhütchen mit Sherry in der einen, eine Zigarre in der anderen Hand. Jonathan starrt mürrisch auf seine Schuhspitzen, die Hände tief in den Taschen seiner Jeanshosen vergraben.
Frau Schröder hält ihm die Schale mit den Schokokeksen hin. »Hier, versuch mal, sie sind köstlich«, nimmt sie den Faden wieder auf. »Hält dein Vater euch immer noch unter Verschluss?«, fragt sie.
Jonathan nickt. Er kriegt den Mund immer noch nicht auf.
»Wo hat er euch denn eingesperrt?«, frage ich neugierig. Das interessiert mich ganz ehrlich. Brennend. Bestimmt nicht im Erdgeschoss, denke ich, da kann man mühelos aus den Fenstern steigen. Vielleicht im zweiten Stock im Erkerzimmer mit den Rosentapeten? Oder in den drei großen Räumen im ersten Stock, die durch das Öffnen der schweren Schiebetüren zu einem riesigen Saal vergrößert werden können?
»Wenn ich dir das erkläre, weißt du sowieso nicht, wo das ist«, brummelt Jonathan mürrisch.
»Das glaube ich schon«, antwortet Frau Schröder an meiner Stelle.
»Wieso denn das?« Jonathan ist überrascht.
»Weil Isha sich in eurem Haus so gut auskennt wie in ihrer eigenen Westentasche.«
»Ich denke, du warst nur mal im Keller!? Hast du etwa unser ganzes Haus besetzt?«
»Hast du was dagegen?« gifte ich ihn an. Ich weiß auch nicht, er bringt mich schon wieder zur Weißglut.
»Isha, nun fang nicht wieder an.« Frau Schröders Stimme klingt noch dunkler als sonst. Auweia, sie ist böse mit uns.
»Wir sind hier nicht im Kindergarten«, weist sie mich kurz zurecht. Stimmt. Sind wir nicht. Okay, Isha, ruhig bleiben und erkläre es ihm endlich.
Mit wenigen Worten schildere ich Jonathan, dass ich später ein Clown werden möchte wie meine Eltern, die mit kranken Kindern in Kliniken arbeiten. Ich erzähle ihm auch von Tommy.
»Euer Haus war meine Theaterbühne und Eddies und mein schönster Spielplatz. In unserer alten Fischerhütte gibt er nur winzige Zimmer.«
Jonathan schiebt seine Kappe nach hinten und starrt mich aus großen Augen an. Er hat grüne Augen. Wie ich. Wieder höre ich die Schiffe auf der Elbe tuten, wie damals im Garten, als er mit seiner Schwester Larissa an unserem Tisch gesessen hat.
»Tommy wünschte sich, dass meine Eltern kommen. Kurze Zeit später fragte er auch nach mir. Er wollte vor seinem Sterben mit meinen Eltern und mir üben, wie man in den Himmel fliegen kann.«
»Scheiße«, sagt Jonathan. »Scheiße, Scheiße.«
Er zieht seine Mütze weit über die Stirn und ich weiß, dass er mit den Tränen kämpft.
Mit einem Mal fängt Jonathan an zu weinen. Er weint hemmungslos drauflos und wischt sich mit dem Ärmel der Jeansjacke seine Tränen und die laufende Nase ab.
Frau Schröder legt ihm Papiertaschentücher auf die Knie.
Er schnieft, zieht geräuschvoll den Rotz hoch und sagt endlich: »Wenn ich das höre von Tommy und den kranken Kindern, dann geht’s meiner Schwester und mir ja noch total gut.«
Er macht eine Pause. Frau Schröder und ich warten.
»Mein Vater schließt uns immer woanders ein. Meistens aber unterm Dach. Da ist es gerade ziemlich heiß. Dort hocken wir dann oft zwei Stunden. Manchmal auch länger«, setzt er leise hinzu.
Ich fühle mich plötzlich ziemlich hilflos, weil Jonathan weint. Was ist bloß los mit mir? Möchte ich ihm wirklich helfen?
»Früher wohnte das Personal dort, hat mir Oma erzählt«, stottere ich und werde rot. »Die schliefen in den kleinen, ungeheizten Räumen unter dem Dach, wo es Sommer und Winter durch die Ritzen gezogen hat«, rattere ich weiter. »Wenn sie Glück hatten, gab es auf derselben Etage sogar ein Klo. Für alle! Und ein winziges Waschbecken.«
»Für die Köchin, den Butler, den Chauffeur, die Zimmermädchen und den Gärtner«, ergänzt Frau
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